Connect with us

Bildung & Forschung

„Asiaten und weiße Europäer sind nicht klüger als andere Menschen“

Spread the love

Ein kürzlich erschienenes Buch über die Lese- und Rechtschreibförderung bei Einwandererkindern hat großes Interesse in- und außerhalb der Fachwelt hervorgerufen. Wir sprachen mit dem Autor. (Foto: aa)

Published

on

„Asiaten und weiße Europäer sind nicht klüger als andere Menschen“
Spread the love

Herr Mand, in Deutschland gilt der IQ als wesentliches diagnostisches Merkmal. Was wird alles mittels dieses Quotienten gemessen und wie sinnvoll ist dieses Label?

Der IQ entscheidet in Deutschland u.a. darüber, ob Kinder in Förderschulen wechseln (wenn der IQ niedrig ist) und er entscheidet auch darüber, ob das Jugendamt ambulante Legasthenie-Therapien bezahlt (bei zumindest durchschnittlichem IQ). Die meisten Eltern haben berechtigte Vorbehalte gegen Förderschulen und wünschen sich Legasthenie-Therapien für ihre Kinder mit Lese-/Rechtschreibproblemen. Ich halte den Einsatz von IQ-Tests in der heutigen Form für diskriminierend. Die meisten der heutigen IQ-Tests sind viel zu ungenau. Sie benachteiligen Kinder aus armen Familien. Sie sind systematisch so konstruiert, dass Kinder aus anderen Kulturen dramatisch schlechter abschneiden.

Thilo Sarrazin hatte sich in seinem Buch auf die mangelnde Intelligenz von Migrantenkindern infolge von genetischen Defekten berufen. Könnten eventuell derartige Messfehler zu einer solchen Fehleinschätzung geführt haben? Zu welchen Ergebnissen sind Sie bezüglich der angeblich mangelnden Intelligenz von Migrantenkindern während Ihrer Arbeit gelangt?

Ich glaube, dass viele Menschen falsche Vorstellungen über die Aussagekraft von Intelligenztests haben. Sie denken: Intelligenz ist eine Gabe, die Menschen in die Wiege gelegt bekommen. Und sie glauben, dass Intelligenztests in der Lage sind, diese Gaben objektiv zu messen. Beide Auffassungen sind leider falsch. Und das ist nicht allein meine persönliche Meinung, sondern das lässt sich aus den einschlägigen Befunden der Intelligenzforschung der letzten Jahre ziemlich überzeugend ableiten. Die Intelligenzentwicklung wird z. B. nachweislich von der Umgebung beeinflusst, in der Kinder aufwachsen. Ein Mensch hat nicht einen einheitlichen IQ, der ihn von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Sondern der IQ fällt unter Umständen deutlich unterschiedlich aus, je nachdem in welchem Alter, in welcher Umgebung und mit welchem Verfahren er gemessen wird. Und was für die Sarrazindebatte besonders wichtig ist: Es gibt nachweislich IQ-Testverfahren, die so konstruiert sind, dass sie Menschen aus nicht westlichen Kulturen drastisch schlechter abschneiden lassen. Wenn man all dies nicht weiß, dann kann man wirklich zu der Auffassung gelangen, dass Menschen aus nicht-westlichen Kulturen Europäern unterlegen sind, und diesen Unfug auch noch auf angebliche genetische Unterschiede zurückführen. Ich bin mir da wirklich sicher: Asiaten und weiße Europäer sind nicht klüger als der Rest der Menschheit. Sondern die IQ-Forschung verwendet Messinstrumente, die Asiaten und Europäer klüger aussehen lässt.

Meines Erachtens kann man solche Zahlen kaum anders interpretieren denn als Hinweis auf eine diskriminierende Verwaltungspraxis. Ich kann deshalb Eltern mit Migrationsgeschichte nur raten, sich unbedingt unabhängigen professionellen Rat zu holen, wenn im Rahmen von Begutachtungsverfahren Intelligenztests gleich welcher Art eingesetzt werden, Widerspruch einzulegen und ggf. auch Klage einzureichen. Soweit dies in meiner Macht steht, helfe ich gerne.

Sie haben ein Buch mit dem Titel „Lese-/Rechtschreibförderung für Migrantenkinder“ herausgebracht. Diese Arbeit scheint eine Marktlücke aufgedeckt zu haben. Wie ist es zu dieser Arbeit gekommen und wie lassen sich die Ergebnisse kurz zusammenfassen?

Ein Thema zu finden, das noch wenig erforscht ist, das ist ja eigentlich der Traum eines jeden Professors. Bei mir ist das Interesse für die Lese- und Rechtschreibförderung von Kindern mit Migrationshintergrund in den ersten Wochen meiner Zeit als Lehrer entstanden. Bilinguale Kinder haben besondere Probleme mit dem Lesen und Schreiben und ich wollte schon damals wissen, wie man diesen Kindern am besten helfen konnte. Und ich war richtig entsetzt, wie wenig über diesen wichtigen Teil der pädagogischen Arbeit bekannt war. Insofern ist mein neues Buch eigentlich eine lange Jahre nicht erledigte Hausaufgabe, die ich nun endlich abliefern konnte. Die Ergebnisse dieses Buches in wenigen Sätzen zusammenzufassen ist nicht einfach. Vielleicht kann man das so sagen: Ich weiß nun nach dieser langen Zeit, dass die Lese-/Schreibentwicklung von bilingualen Kindern von wirklich vielen Faktoren abhängt. Ich kenne einige Methoden, von denen man mit einiger Sicherheit sagen kann, dass sie gut funktionieren. Ich kenne einige Methoden, die sich als nicht besonders überzeugend erwiesen haben. Und ich habe zumindest eine Ahnung, in welchen Gebieten wir noch viel zu wenig wissen.

Johannes Mand Förderung für Migrantenkinder.png

Ein ganz großes Thema, dass Sie versuchen, zu erarbeiten, ist die Lesekompetenz. Sie schreiben, dass etwa die Hälfte der Schüler, die am Ende der Schulzeit keine hinreichende Lesekompetenz erreichen, aus Migrantenfamilien stammt. Was sind die Ursachen dieses Ergebnisses?

Einigermaßen sicher ist zunächst, dass wir es mit sehr vielfältigen Ursachen zu tun haben. Besonders wichtig erscheint mir darauf hinzuweisen, dass die soziale Lage von Kindern ganz erhebliche Auswirkungen auf die schulische Entwicklung hat. Wer arm ist, entwickelt häufig auch Probleme im Lesen und Schreiben. Fast alle Kinder können lesen lernen. Und es ist die Aufgabe von uns Lehrern, dieses Ziel möglichst weitgehend zu erreichen. Auch in diesem Bereich ist es wirklich instruktiv, sich anzuschauen, wie gut oder wie schlecht Schulsysteme auf der Welt mit diesem Problem umgehen. Einigen Staaten gelingt die Förderung von Kindern aus armen Familien, von Kindern aus Migrantenfamilien gut. Andere Staaten haben ein Schulsystem, das nur bescheidene Angebote für diese Familien bereitstellt. Und ich fürchte, Deutschland gehört wohl zu den Ländern, deren Bildungssystem nicht besonders gut mit Kindern aus armen Familien umgehen kann.

Was erwartet diese Kinder mit fehlender oder mangelnder Lesekompetenz im gesellschaftlichen Leben?

Die negativen Auswirkungen von Literacyproblemen sind wirklich bedrückend. Zunächst ist das so: Wer nicht oder fast nicht lesen kann, bekommt schlechte Noten. Wer schlechte Noten hat, bekommt keinen Schulabschluss oder nur wenig attraktive Schulabschlüsse. Die Folge: Es gibt keine oder nur wenig attraktive Berufsbildungschancen. Und ohne Berufsausbildung sind Arbeitslosigkeit und ein Leben am Rande der Gesellschaft vorprogrammiert. Schulen, die nicht erfolgreich in der Leseförderung sind, produzieren also Armut.

„Jede Grundschulklasse in Deutschland wird von mindestens einem Kind mit Migrationshintergrund besucht, das nicht oder nur sehr schlecht lesen kann und das keine oder nur sehr schlechte Rechtschreibkenntnisse entwickelt. In vielen Klassen sind gleich mehrere dieser Schüler“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Diese Aussage hat fatale Folgen. Welche Instanzen und Bereiche der Gesellschaft haben versagt und führen Ihrer Meinung nach zu solch einem Ergebnis?

Eine der ersten Dinge, die mir meine Professoren in meinem Politikstudium damals beibringen wollten, war, dass man Politik als Problemlösung betrachten muss. Bildungspolitik ist in Deutschland Sache der Bundesländer. Mit der Problemlösung hat in Sachen Lese-/Rechtschreibförderung von Migrantenkindern ganz offensichtlich einiges nicht geklappt. Man muss sich auch in den Lehrerbildungsinstitutionen kritische Fragen gefallen lassen. In einem meiner neuen Forschungsprojekte zu Lehramtsanwärtern, ist mir z. B. aufgefallen, dass die meisten Referendare wirklich ahnungslos in Sachen Diagnostik sind. Nicht, weil sie desinteressiert sind. Sondern, weil sie einfach keine Lehrveranstaltungen zu diesem Thema belegen konnten. Pädagog/innen benötigen ein Grundwissen über normale und vielleicht auch über besondere Entwicklungsverläufe. Und dieses Grundwissen fehlt in vielen Einrichtungen. Die deutschen Schulen entlassen Jahr für Jahr etwa 10 % von Jugendlichen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Und die Hälfte von ihnen hat Migrationshintergrund.

Weshalb mangelt es Ihrer Meinung nach bei solch einem wichtigen Thema an ausreichender Untersuchung?

Ach, die Wissenschaft ist manchmal ein komisches Geschäft. Man muss das sich nicht so vorstellen, dass Forscher darüber abstimmen, an welchem wichtigen gesellschaftlichen Problem jetzt Forschung fehlt. Sondern in der Wissenschaft gibt es ein Auf und Ab von Moden. Von Pierre Bourdieu, einem berühmten französischen Soziologen, stammt z. B. der Gedanke, dass es so eine Art Marktgeschehen im Wissenschaftsbereich gibt – mit Anbietern (also z. B. Forschern) und Kunden (z. B. Lesern von klugen Büchern und Zeitschriften). Wenn man diesen Gedanken auf die Forschung zur Lese-/Rechtschreibförderung bezieht, kann man sagen: Es ist zurzeit einfach nicht besonders modern, sich mit der Lese-/Rechtschreibförderung von Kindern mit Migrationshintergrund zu befassen.

Sie schreiben, dass gerade die Lese- und Schreibaneignung bei bilingualen Kindern in Deutschland komplex oder gar falsch verläuft. Wie müsste diese idealerweise verlaufen?

Eine gute Lese- und Schreibentwicklung beginnt in einer lesefreundlichen Familie mit vielen Büchern. Kinder müssen einfach schon früh lernen, dass in Büchern tolle Geschichten sind. Sie sollen mit Freude auf die Welt des Lesens vorbereitet werden. Und das beginnt wirklich schon vor dem ersten Geburtstag. Bilderbücher, Kinderbücher, Märchen, das ganze Programm. Und zwar täglich, weit über die Einschulung hinaus.

Aus Angst, in Zukunft bei ihren Kindern derartige Probleme zu durchlaufen, wissen viele Migranten nicht mehr, ob sie ihren Kindern die eigentliche Muttersprache noch beibringen sollen, ob sie von Anfang an ein bilinguales Sprachkonzept durchführen oder quasi step by step eine Sprache nach der anderen vermitteln sollen. Was würden Sie diesen Familien empfehlen?

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass Bilingualität wirklich eine gute Sache ist. Das ist einfach toll, wenn man sich in zwei Sprachen bewegen kann. Und das sage ich auch aus eigener Erfahrung. In Sachen Bilingualismusdebatte eine Entscheidung herbeizuführen, das ist an dieser Stelle sicher nicht möglich. Es gibt Forscher/innen, die davon ausgehen, dass man zunächst eine sichere Basis in der ersten Sprache benötigt, bevor man auf diesem sicheren Fundament die zweite Sprache erwerben kann. Und es gibt Forscher/innen, die diese Auffassung nicht vertreten. Für Eltern gibt es allerdings eine pragmatische Lösung. Mein Rat wäre, die Entscheidung von den schulischen Möglichkeiten vor Ort abhängig zu machen. Eltern mit Migrationshintergrund sollten sich überlegen, in welcher Sprache ihre Kinder lesen und schreiben lernen werden. Kann das Kind eine Schule mit umfangreichen bilingualen Angeboten besuchen (also: Unterricht z. B. in den ersten Jahren überwiegend in der ersten Sprache des Kindes), dann und eigentlich nur dann, ist eine ausschließliche Förderung der ersten Sprache in der frühen Kindheit sinnvoll. Ist wahrscheinlich, dass das Kind in der Mehrheitssprache alphabetisiert wird, dann gilt nach Befunden der Bilingualismusforscher Silven und Rubinov: Je früher und je umfangreicher bilinguale Kinder in Kontakt mit der Mehrheitssprache kommen, desto besser sind die schulischen Fertigkeiten.

Ob dieser Befund auch gleichzeitig heißt, dass Eltern zu Hause nur noch die Mehrheitssprache sprechen sollen, das ist etwas unklar. Es gibt zwar Studien, die feststellen, dass Kinder aus diesen Familien mit deutscher Verkehrssprache etwas besser in der Schule abschneiden. Aber es ist nicht ganz klar, ob dieser Befund wirklich auf kausale Beziehungen zurückgeht oder nicht etwa auf den sozialen Hintergrund.

Meine Meinung ist: Eltern, die keine perfekten Deutschkenntnisse haben, dürfen sich von solchen Studien nicht verunsichern lassen. Wer möchte, dass die erste Sprache nicht verloren geht, kann ja auch nach der One-Person-One-Language- Methode verfahren, insbesondere dann, wenn ein Elternteil perfekte Deutschkenntnisse hat und ein Elternteil nicht sicher in der Mehrheitssprache ist.

Sind Sie während Ihrer Untersuchungen auch im Bereich der pädagogischen und therapeutischen Arbeit auf positive und lobenswerte Entwicklungstendenzen und -neuerungen gestoßen?

Ja, manchmal hält die Wirklichkeit interessante Überraschungen für Forscher bereit. Ich habe mich in den Städten des Ruhrgebiets z. B. gezielt auf die Suche nach Schulen gemacht, die von vielen Migrantenkindern besucht werden. Die Schulen habe ich gefunden. Die Kinder habe ich getestet. Ich habe auch Hinweise auf je nach Sprache unterschiedliche Rechtschreibfehler gefunden. Die entscheidende Nachricht der Brennpunktstudie waren aber nicht diese doch eher nur kurzfristigen Besonderheiten der Lernentwicklung. Sondern die entscheidende Nachricht war, dass die untersuchten Kinder in den vermeintlichen Brennpunktschulen trotz offenkundig nicht unbedingt günstiger Rahmenbedingungen vergleichsweise gute Testergebnisse erreichen konnten. Wer also in der Nähe von Schulen wohnt, die von vielen Migrantenkindern besucht wird, der sollte nicht vorschnell das Weite suchen. Manchmal machen gerade die Schulen gute Arbeit, die mit schwierigen Rahmenbedingungen zu tun haben.

Johannes Mand ist hauptberuflicher Lehrbeauftragter für Heilpädagogik mit dem Schwerpunkt „Hilfen zur Erziehung“ und lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Bochum.