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Politik

§ 231: „…nicht strafbar, wenn der Vergewaltiger das Opfer heiratet“

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In der Türkei sorgt ein Gesetzesentwurf der Regierung vielerorts für Empörung. Er sieht vor, dass sexueller Missbrauch straffrei bleiben soll, wenn der Vergewaltiger das Opfer danach heiratet. Sollte der Entwurf so angenommen werden, könnte das für viele Frauen furchtbare Konsequenzen haben.

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Am kommenden Dienstag entscheidet sich, wie in der Türkei mit vergangenen und künftigen Sexualdelikten verfahren wird. Dabei geht es vor allem um 4000 Vergewaltiger, die sich bereits strafbar gemacht haben, darunter auch Täter, die sich an Minderjährigen vergangen haben. Sie sitzen derzeit in Haft und hoffen auf ein Durchwinken eines Gesetzesentwurfes der Regierungspartei AKP am Dienstag. Darin heißt es, eine Vergewaltigung sei „…nicht strafbar, wenn der Vergewaltiger das Opfer heiratet.“

Neben Paragraph 231 ist ergänzend ist zu berücksichtigen, dass es noch den Paragraphen 103 gibt, der bis Januar 2017 entweder neu definiert werden muss oder wie bisher stehenbleibt: Darin geht es um die Frage, ob Geschlechtsverkehr bereits mit Minderjährigen ab 12 Jahren oder wie gehabt erst ab 15 Jahren gesetzlich erlaubt sein soll, sofern beide Geschlechtspartner dem zustimmen.

Würden solchen Gesetzesentwürfe umgesetzt oder neu ausgehandelt, könnte auch die Quote vergewaltigter Minderjähriger noch weiter ansteigen, befürchtet Nazan Moroğlu, Koordinatorin und Anwältin des Frauenvereins Istanbul. In den letzten Jahren hätten sich die Verhandlungen zu Sexualdelikten um das Siebenfache erhöht, fasst die Zeitung Diken die Statistik des türkischen Parlaments zusammen. Nur ein Bruchteil dieser Fälle endete mit einem angemessenen Urteil, die meisten Täter blieben von langen Haftstrafen verschont.

Den Preis müssen die Betroffenen und unter Umständen die Kinder zahlen.

Mit einer Zwangsheirat, nachdem sie bereits vergewaltigt wurden.

Der Entwurf ist von allen Befürwortern bereits unterzeichnet. Es sind jene, aus deren Lager Fälle mehrfacher Vergewaltigungen -seien es Frauen, Mädchen oder Jungen – aufgedeckt wurden. Es sind Menschen, die sich dabei auf den Islam berufen. Immerhin habe auch der Prophet Aischa zur Ehefrau genommen, als sie 9 Jahre alt war.

Ein weiteres Argument sei, dass auch heutzutage Mädchen in islamischen Ländern bereits mit 12 Jahren verheiratet werden würden. Sicherlich gibt es dort Ehen, die im Kindesalter vollzogen werden, allerdings nicht rechtens. Denn auch hier wird übersehen, dass in anderen islamischen Ländern eine strikte Altersregelung bezüglich der Heirat besteht. Nur in sehr orthodoxen Glaubensschulen werden Ehen mit Minderjährigen von 12 Jahren oder sogar jüngeren Alters vollzogen. Dennoch, trotz fragwürdiger Argumente scheint es, dass die AKP den Entwurf durchkriegen wird.

Die Aussichten stehen gut. Die Grundlagen dafür sind bekanntlich bereits geschaffen: Nach Absetzung vieler Juristen und Beamter, ist der Staats- und Justizapparat frisch saniert worden. Der Richter habe sich von der Reaktion der CHP nicht weiter stören lassen. Sie hatte sich gemeinsam mit der MHP von dem Entwurf distanziert, sogar lautstark dagegen protestiert.

Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, werden zahlreiche Häftlinge „heiratswütig“ vor den Altar treten wollen, um entlassen zu werden.

Zur Frage, warum dieser Paragraph überhaupt zur Diskussion steht, gibt es mehrere Antworten: Man wolle vor allem die Statistik glatt bügeln, indem die Verurteilung künftiger Vergewaltiger sowie Kinderschänder abwenden wolle. Künftigen Straftätern würde der Paragraph entgegenkommen. Klagen würden fallen gelassen werden oder gar nicht erst auf den Tisch kommen. Wie man kolportiert, wäre damit Platz genug, um weitere Verhaftungen vorzunehmen. Die Säuberungsaktionen sind nämlich noch lange nicht vorbei, wie die AKP vor kurzem verkündet hat. Der Grund, dieses Gesetz in Kraft treten zu lassen, sei dann vorrangig pragmatischer Natur. Ein weiterer und wichtiger Punkt wäre die „Ankurbelung der Heiratsquote“, auch von gesetzlich Minderjährigen. Wie auch das Hauptanliegen der AKP sein mag, eines steht fest: Mit dem Inkrafttreten hätte die Regierung gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Das Gesetz schützt nicht die Opfer sondern die Täter.

Dies hätte vor allem in der Zukunft verheerende Folgen:

  • Männern verschiedenen Profils – seien es Religiöse, denen der Geschlechtsverkehr vor der Ehe versagt ist, seien es psychisch labile oder gewaltbereite Männer – würde somit die Lizenz zu Sexualdelikten beziehungsweise zum Vergewaltigen erteilt.

  • Der gesellschaftlich und individuell sinkende Stellenwert der Frau wäre damit auch rechtlich legitimiert. Sie würden zudem – falls es zu einer Zwangsheirat kommt – gänzlich psychisch zerstört werden. Das alles zum Schutz des Vergewaltigers.

Spinnt man den Faden noch ein wenig weiter, ahnt man Böses. Neue bevorstehende, geplante Verhaftungswellen, Kinderheirat, Zwangsheirat vergewaltigter Frauen, Ehrenmorde, potenzielle Vergewaltiger, die durch das Gesetz einen Gutschein erhalten, den sie unter Auflage der genannten Bedingungen einlösen und sich freikaufen können. Ohne Verfallsdatum im Idealfall.

Es ist eine verkehrte Welt, in der man nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Man muss sich fragen, wie lange es noch dauert, bis die absolute Spitzenleistung eines Staates erreicht ist, dessen Präsident ihn als „so frei wie noch nie zuvor“ proklamiert.

Denkt er dabei an die zuhauf vergewaltigten Kinder, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, aus den Internaten? Oder an die Frauen, die mit einer vergangenen Vergewaltigung leben und in Zukunft mit weiteren leben müssen? Denn nichts weiter ist es, falls dieses Gesetz durchkommt. Eine Ehe nicht bestehend aus Beischlaf sondern aus einer endlosen Kette aus Missbrauch, Schändung und ja: Vergewaltigungen.

Das ganze abgesegnet von Vater Staat.

Dieses Gesetz spaltet nicht nur politische Lager noch tiefer, sondern erschüttert vor allem Eltern, deren Töchter in ein heiratsfähiges Alter kommen. Es erschüttert Brüder, deren Schwestern in unsicheren Vierteln leben und bis spät abends arbeiten müssen. Es verunsichert einen Vater, der nicht mehr agil genug ist, um Frau und Tochter beistehen zu können. Ganz zu schweigen von vielen Paaren: Denn wird die Freundin im schlimmsten Fall vergewaltigt, kann man sich ausmalen, was der Freund unternehmen wird, um seine Partnerin zu schützen.

Es ist der Phantasie überlassen.

Am besten wäre eine sofortige Heirat um einem weiteren Schicksalsschlag zu entgehen.

Laut der Tageszeitung Cumhuriyet hat der CHP-Abgeordnete Esin Hacıalioğlu bereits durchsetzen können, dass Frauen, die ab 22 Uhr mit den öffentlichen İETT-Bussen unterwegs sind, darauf bestehen können, auf der Route dort abgesetzt zu werden, wo sie möchten. Dies sei erforderlich, um sie vor Übergriffen zu schützen und ihnen ein Stück Lebensqualität wiederzugeben. Zu regelmäßig gibt es Vorfälle, bei denen Männer Frauen belästigen. Obgleich die CHP mit solchen Forderungen versucht, gegen die prekären Verhältnisse zu steuern, behandeln solche Gesetze das Übel leider nicht an der Wurzel. Es ist auch schwer, sie an der richtigen Stelle anzupacken. Die Lage ist verwirrend, zu viele Köche um einen Brei. Dabei sind die meisten aus dem gleichen Kader. Zu viele Baustellen, die man angehen müsste. Zu viele Idealisten, die tätig sein wollen, aber immer weniger Hoffnung haben. Zu viele Kinder und Minderjährige, die nicht wissen, was über ihre Köpfen hinweg entschieden wird.

Ganz gleich, ob das Gesetz am kommenden Dienstag durchgeht oder nicht, eines ist sicher:

Wenn eine Regierung so weit ist, Gesetzesentwürfen wie §231 Raum zu geben und sie überhaupt zur Diskussion zu stellen, dann kann das nichts Gutes mehr heißen. Dieser Schritt an Maßlosigkeit scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein.

Es bleibt der Dienstag abzuwarten.