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Geschichte

Die Putschgeneräle vom 12. September: Helden oder Verbrecher?

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Am Morgen des 12. September 1980 verkündete Generalstabschef Kenan Evren den Ausnahmezustand. Vorangegangen waren dem Putsch eine Krise an der Staatsspitze und eine Reihe von politischen Morden, die das Land erschütterten.

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Der 12. September des Jahres 1980 sollte zu einem Tag werden, der die spätere Geschichte der Türkei, aber auch die Entwicklung des Landes noch lange prägen und sich tief ins kollektive Gedächtnis einbrennen sollte. Am Morgen dieses Tages weckte der damalige Generalstabschef Kenan Evren (Foto) die Bevölkerung an den Radiogeräten mit der Mitteilung, dass „die Armee für das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes die Macht übernommen“ und den Ausnahmezustand ausgerufen habe.

Es war nach 1960 und 1971 der dritte Militärputsch in der Geschichte der modernen Türkei, und er hatte sich bereits in den Monaten zuvor angekündigt.

Zum einen gab es eine Regierungskrise. Im Oktober 1979 hatte nach einem deutlichen Sieg bei den Senatswahlen (der Senat wurde mit der Verfassung von 1982 abgeschafft) die Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei; AP) unter Süleyman Demirel das Kabinett Bülent Ecevit (Cumhuriyet Halk Partisi; Republikanische Volkspartei – CHP) abgelöst, um sich die Mehrheit zu sichern, musste Demirel sich aber auf die Idealistenbewegung, vertreten durch die Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalen Bewegung; MHP) und auf die islamische Milli Selamet Partisi (Nationale Heilspartei; MSP) unter Necmettin Erbakan stützen.

Die Instabilität der politischen Verhältnisse zeigte sich darin, dass es auch nach 120 Wahlgängen nicht gelungen war, einen Staatspräsidenten zu wählen. Der Generalstab hatte den politischen Akteuren am 1. Januar 1980 auch bereits eine Rute ins Fenster gestellt und in einer Erklärung unter anderem geäußert: „Die parlamentarischen Parteien wurden aufgefordert, ihre Differenzen zu überwinden und stabile Verhältnisse im Land zu schaffen.“

Das Gezerre um das Präsidentenamt wäre möglicherweise für sich alleine nicht ein entscheidender Faktor gewesen, der die Militärs schon dazu bewogen hätte, zum Mittel des Staatsstreichs zu greifen. Zur institutionellen Krise hinzu kam zum anderen noch die angespannte politische Lage im Land selbst.

Pogrome von Çorum forderten Dutzende Tote

Im Ultimatum des Generalstabes hieß es auch: „Unsere Nation kann nicht länger diejenigen dulden, die die großzügigen, in unserer Verfassung verankerten Freiheiten missbrauchen, diejenigen, die die kommunistische ‚Internationale‘ anstelle unserer Nationalhymne singen, oder diejenigen, die das demokratische System durch irgendeine Art von Faschismus, Anarchie, Zerstörung und Separatismus ersetzen wollen.“

Wenige Wochen vor dem Putsch, am 4. Juli 1980, kam es in der türkischen Provinz Çorum zu schweren Ausschreitungen gegen die alevitische Bevölkerung, bei denen 57 Menschen, darunter auch Kinder und Frauen, getötet wurden, 200 Verletzte zu beklagen waren und mehr als 300 Fälle von Brandstiftung und Sachbeschädigung. Tausende von alevitischen Familien flohen damals vor den Pogromen. Auslöser der Ausschreitungen war die Ermordung des von der MHP gestellten Zollministers Gün Sazak durch einen 17-jährigen Angehörigen der linksextremistischen Terrorgruppe Dev Sol am 26. Mai, dem Vergeltungsaufrufe gegen Linke und Aleviten in nationalistischen Medien folgten.

Diese Ereignisse waren jedoch nur ein kleiner Ausschnitt aus den Gewaltexzessen der Jahre zuvor. In den Wochen vor dem Putsch sollen im Schnitt 30 Personen täglich politischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen sein.

Um die wirtschaftliche Schwäche der Türkei zu bekämpfen, gaben die Militärs nach ihrem Staatsstreich die Wirtschaftslenkung kontinuierlich aus der Hand, um den Weg frei zu machen für Industrialisierung und Wirtschaftswachstum durch zunehmende Privatisierungen. Eine funktionierende Marktwirtschaft entstand jedoch nicht. Korruption und Interventionismus blühten weiterhin, die Umstrukturierungen und Bestrebungen, die Türkei fit für den Weltmarkt zu machen, zogen soziale Verwerfungen nach sich und die Verarmung in Teilen der Bevölkerung war ein Nährboden für links- und rechtsextremistische Kräfte sowie Separatismus in den Kurdengebieten.

„Graue Wölfe“ im Kampf gegen Linksextremisten und kurdische Separatisten

Unter den linksextremistischen Verbänden kam es nach der Ermordung ihrer politischen Führer wie Deniz Gezmiş und Mahir Cayan zu Spaltungen in Gruppen, die – wie THKO oder THKP-C – grundsätzlich pro-kemalistisch waren und die jungtürkische Revolution als ersten Schritt hin zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft sahen, die sie aufbauen wollten, und in solche wie die TKP/ML unter Ibrahim Kaypakkaya, die bereits die Gründung der Republik als von den „Imperialisten“ gesteuerten, faschistischen Akt ansahen und nach dem Vorbild Mao Tse-Tungs einem „revolutionären Volkskrieg“ und Guerillamethoden den Vorzug gaben. Die „Arbeiterklasse“ wollte sich von diesen Gruppen jedoch nicht „befreien“ lassen, sodass linksextreme Parteien bei Wahlen stets bedeutungslos blieben und stattdessen durch blutigen Terror um Aufmerksamkeit buhlen mussten.

Den linken und kurdischen Terrororganisationen, die sich im Laufe der 60er und 70er Jahre gebildet hatten, standen die Kräfte der Idealistenbewegung gegenüber, deren „Bozkurtçular“-Kommandos („Graue Wölfe“) seit Ende der 60er Jahre nicht selten gewaltsam gegen ihre Gegner vorgingen. Den Kommandos der „Grauen Wölfe“ sollen bis zu 100 000 Menschen angehört haben, manche davon sollen auch in Konterguerilla-Verbänden eingegliedert worden sein, die einst in der Nachkriegszeit unter dem Mantel der „Gladio“-Strukturen gebildet worden waren.

Da von 1975 an die MHP mit an der Regierung saß, stand die Regierung den Bozkurtçular-Kommandos positiv gegenüber und gab ihnen Rückendeckung. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 wurden jedoch auch die MHP und die „Grauen Wölfe“ wie fast alle bis dahin bestehenden politischen Parteien, Organisationen, Vereine, Verbände und Gewerkschaften verboten und mussten sich neu gründen. Gegen die Spitzenpolitiker fast aller Parteien verhängte die Militärjunta auch Politikverbote, die zum Teil lebenslang gelten sollten.

Der Militärputsch wurde von vielen Bürgern begrüßt, die sich auf diese Weise eine Rückkehr von Sicherheit und Ordnung versprachen. Die weitreichenden Eingriffe des Militärs in die Grundrechte der Bürger und ins tägliche Leben führten zu einer starken Entpolitisierung der Bevölkerung, da man stets fürchten musste, ins Visier der Sicherheitskräfte zu geraten.

Auf Grund des Putsches gab es massenweise politische Verhaftungen; die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt; die Verhängung von Ausgangssperren und Hausdurchsuchungen durch die Sicherheitskräfte waren jederzeit möglich. Militärpanzer und Soldaten prägten das Bild türkischer Städte, an den Schulen wurde die Prügelstrafe wieder praktiziert.

„Einen von rechts gehängt, dann wieder einen von links“

Kenan Evren soll in einer Fernsehsendung über die Hinrichtungen im Jahre 1980 geäußert haben: „Damit es gerecht wird, haben wir abwechselnd einen aus dem rechten und einen aus dem linken politischen Lager erhängt.“ Man wollte „damit zeigen, dass wir neutral und fair sind.“ In den Kurdengebieten kam es seit 1980 immer mehr zu Verschleppungen, Folterungen und Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung, aber auch gegen missliebige Bürgermeister oder Provinzpolitiker. In der Zeit nach dem Militärputsch 1980 sollen auch jene Strukturen innerhalb des Staatsapparates gebildet und verfestigt haben, die später in Form von „Ergenekon“ zum Tragen kommen sollten.

Infolge des Putsches soll es zu umfangreichen Säuberungsaktionen im Staatsapparat gekommen sein, die insgesamt 30 000 Personen betrafen. Cumhuriyet schrieb am 12. September 1990 von 650 000 politischen Festnahmen, 7000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. Dazu kam eine ähnlich hohe Dunkelziffer von Todesfällen, bei denen Folterverdacht bestand, aber nicht nachgewiesen werden konnte.

Erst mit der Verabschiedung der Verfassung von 1982 und der Wahl des Wirtschaftsreformers Turgut Özal zum Premierminister im Jahre 1983 trat wieder leichte Entspannung ein.

In der Türkei sind die letzten noch lebenden Anführer des Militärputsches von 1980 im Juni 2014 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Kenan Evren, der damalige Armeechef, der nach dem Staatsstreich Präsident wurde und der einstige Luftwaffenchef Tahsin Şahinkaya standen seit 2012 vor Gericht. Ihre Gefängnisstrafen dürften sie ihres hohen Alters wegen nicht mehr antreten müssen. Ihre militärischen Ränge wurden ihnen aberkannt.