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Gesellschaft

20 Jahre Solingen: „Ich wünsche mir, dass Gott den Tätern vergibt“

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Heute vor 20 Jahren töteten Neonazis einen großen Teil ihrer Familie. Im Interview spricht Mevlüde Genç von der Gleichheit aller Menschen vor Gott und wie trotz allem die Liebe unter den Menschen in unserem Lande wirken kann.

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Ein Mehrfamilienhaus mit grauer Fassade am Rande der Solinger Innenstadt. Wir sitzen im Wohnzimmer bei Mevlüde Genç (70) und ihrem Ehemann Durmuş (69), die bei dem rechtsextremistisch motivierten Brandanschlag am 29. Mai 1993 auf ihr Haus in Solingen zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte verloren haben. An der Stelle des abgebrannten Hauses in der Unteren Wernerstraße 81 wachsen heute Kastanienbäume. Aus Respekt vor den Opfern wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. Mithilfe von Spenden- und Versicherungsgeldern hat die türkische Großfamilie in Solingen ein neues Haus bezogen. Im Wohnzimmer der Gençs steht ein Schrank mit persönlichen Auszeichnungen und Ehrungen, zum Beispiel „ Mutter des Jahres 2012“. Daneben eine Galerie mit Fotos prominenter deutscher und türkischer Politiker, die sich nach dem feigen Anschlag fürsorglich um die Familie kümmerten, wie etwa der frühere NRW-Ministerpräsident und Bundespräsident Johannes Rau. Über dem Flachbildschirm steht der Monitor einer Überwachungskamera, die Tag und Nacht den durch ein schweres Stahltor gesicherten Hauseingang im Blick hat – und an das abscheuliche Verbrechen erinnert. Die Gençs aber empfinden die Videokamera als Schutz und „ein Fenster nach draußen“.

Frau Genç, in den letzten Wochen haben Sie wegen Ihrer angeschlagenen Gesundheit serienweise Interviewanfragen ablehnen müssen. Liebenswürdigerweise haben Sie für uns jetzt eine Ausnahme gemacht. Wie bewerten Sie das große Interesse der Medien am 20. Jahrestag des Solinger Brandanschlags?

Generell finde ich gut, dass das Interesse groß ist. Ich denke, dieser Anschlag ist ein Eintrag in die Geschichte dieses Landes. Wenn die Medien nicht darüber berichten, wie soll man sonst davon erfahren? Deshalb muss ich natürlich darüber reden.

Was hat sich für Sie in Deutschland seit diesem Anschlag vor 20 Jahren geändert?

Als Mutter macht es für mich keinen Unterschied, ob fünf, zehn oder zwanzig Jahre vergangen sind. Für mich ist der Schmerz jeden Tag der gleiche. Ich habe nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert. Diesen Schmerz erlebe ich bis heute jeden Tag aufs Neue. Wenn man sich Deutschland anschaut, muss ich feststellen, dass sich hier seit 1993 nicht viel verändert hat. Leider sind solche Anschläge danach immer wieder passiert. Es sind unwissende junge Leute, die sich so verhalten. Was soll man dagegen tun?

Haben Sie in den Jahren nach dem Brandanschlag Gedanken an eine Rückkehr in die Türkei gehabt?

Ich habe nie daran gedacht, in die Türkei zurückzukehren, weil ich den größten Teil meines Lebens hier verbracht habe. Ich bin im Alter von 27 Jahren nach Deutschland gekommen und ich habe mich an das Leben hier sehr gewöhnt. Auch meine Kinder und Enkelkinder sind hier. Die Menschen, die ich liebe, sind hier. Wir bestehen inzwischen aus fünf Familien. Ich bin viel zu sehr mit den Gewohnheiten in Deutschland vertraut. Hier in Solingen kenne ich jede Straße. Heute könnte ich in der Türkei gar nicht so leben, wie ich hier lebe. Der deutsche Staat war immer für mich da. Bisher habe ich noch nie daran gedacht, zurückzukehren. Und ich werde wohl auch zukünftig nicht daran denken.

Haben Sie gar kein Heimweh?

Wenn wir uns in Deutschland langweilen, dann fahren wir in die Türkei. Und wenn wir uns dort langweilen, dann kommen wir wieder zurück. Das ist für uns im Rentenalter das beste Leben. Inzwischen verbringen wir sechs Monate hier und sechs Monate in der Türkei. Da tanken wir Kraft. Die Luft und das Wetter sind dort besser.

Wo möchten Sie einst begraben werden?

Ich möchte neben meinen fünf getöteten Kindern liegen, in Mercimek, meinem türkischen Heimatdorf.

Hat dieser Brandanschlag Deutschland und die Deutschen verändert?

Es hat sich nur minimal etwas zum Besseren hin gewendet. Wenn ich es in Zahlen ausdrücken sollte, vielleicht haben die interkulturellen Annährungen und Freundschaften um etwa zehn Prozent zugenommen. Ich sehe leider, dass es große Unterschiede gibt zwischen Deutschen und Türken. Das Problem ist, dass wir noch immer nicht gelernt haben, uns wechselseitig mit unseren gegenseitigen Problemen zu verstehen.

Unmittelbar nach der Tat sind Sie mit einer großen versöhnlichen Geste auf die Deutschen zugegangen und haben ihnen zugerufen: ‚Lasst uns Freunde bleiben!‘ Ist Ihnen dies seinerzeit nicht sehr schwer gefallen?

Doch. Es war für mich eine große Überwindung. Ich musste den Schmerz für mich behalten, für mich verarbeiten. Es ist mein Schmerz. Nach 1993 ist meine Welt zusammen gebrochen. Meine Tränen habe ich nicht gezeigt. Aber ich habe gesehen, dass die Menschen in Frieden und Freundschaft weiterleben müssen. Deshalb habe ich sie zu mehr gegenseitiger Freundschaft, Friede und Liebe eingeladen. Ich musste dies aussprechen. Das war in dieser Situation meine große Aufgabe. Dessen war ich mir bewusst.

Woher haben Sie in Ihrer tiefen Trauer diese Kraft genommen?

Wir sind alle die Geschöpfe eines Gottes, wir haben alle einen Propheten. Wir sind alle gleich. Es macht keinen Unterschied, ob es nun ein Türke ist oder ein Deutscher. Wir sind alle Menschen. Ich trage die Liebe meiner verstorbenen Menschen in mir. Es bringt nichts, anderes zu erhoffen. Sie werden nicht mehr zurückkehren. Das weiß ich. Und mit der Liebe zu ihnen in mir lebe ich nun weiter. Ich möchte einfach nur, dass die Menschen sich untereinander wertschätzen, dass die Menschen anfangen, miteinander gut auszukommen. Sie sollen hier ein anständiges Leben führen und sich gegenseitig respektieren. Was kann ein Mensch geben außer Liebe? Ich habe eine große Liebe zu den Menschen. Mich macht es schon traurig, wenn jemandem die Nase blutet.

Inzwischen haben Sie elf Enkelkinder im Alter zwischen sieben Monaten und 22 Jahren. Können Sie mit einigen Ihrer Enkel schon über den Brandanschlag vor 20 Jahren reden?

Ich habe es noch nie getan. Von mir aus habe ich noch nie darüber geredet. Aber meine Enkel hören natürlich in der Schule von dieser Tat. Ich selbst habe mich aber zurückgenommen und wollte meine Enkel nicht damit belasten oder in ihren schulischen Leistungen beeinflussen. Mein Enkel Can geht zur Grundschule. Dort hat er gehört, seine Tanten wurden verbrannt. Da habe ich zu ihm gesagt, nein, mein Kind, sie wurden nicht verbrannt. Das Haus hat gebrannt und sie sind durch den Rauch vergiftet worden.

Die Enkel fragen ihre Oma, was vor 20 Jahren war?

Die Kinder fragen, warum die Familie in der Öffentlichkeit häufig hervorgehoben werde. Ich sage ihnen, dass die Menschen uns wertschätzen, unterstützen und Freundschaft zeigen, weil unser Haus gebrannt hat. Je älter die Enkel werden, desto mehr lernen sie von selbst über diesen Anschlag. Ich tue mich schwer, mit ihnen darüber zu sprechen.

Sie sind eine sehr gläubige Frau mit großem Gottvertrauen. Wie sehr hat Ihnen ihr Glaube geholfen, mit dem Schmerz über den Verlust ihrer Familienangehörigen fertig zu werden?

Der Glaube an Gott ist für mich das Elementare. Es ist das einzige, was mich am Leben hält. Es gibt mir die Kraft, die Liebe zu meinen Kindern in mir zu halten. Der Schicksals-Glaube ist für mich ausschlaggebend. Ich weiß, dass alles Gute und Schlechte von Gott kommt. Selbst wenn ich über einen kleinen Stein auf der Straße stolpere, kommt dies von Gott. Wenn ich das weiß, dann macht mich das stark. Dann ist das für mich der Grund, darüber hinweg zu kommen.

Aber lässt ein solch brutaler Mordanschlag die Menschen nicht auch an Gott zweifeln und verzweifeln?

Im Koran steht, ich gebe das Leben und ich nehme das Leben. Wir wissen, dass alles von Gott kommt, sowohl das Gute als auch das Schlechte. Er gibt uns das Leben. Ich habe das Leben meiner Kinder nicht geschöpft, sondern Gott ist der Schöpfer. Es ist so, wie das Schicksal das vorschreibt. Wir kommen von Gott und wir gehen zu Gott. Der Glaube daran ist das Wichtigste von allem. Können wir Menschen irgendwas Lebendiges erschaffen? Wir haben Flugzeuge gebaut und Smartphones erfunden und damit die ganze Welt in unsere Tasche gesteckt. Aber nichts davon lebt.

Wie ist Ihr Verhältnis als Muslima zu den christlichen Religionen?

Wir haben alle eine eigene Religion und eine unterschiedliche Weltanschauung. Jeder hat seinen eigenen Glauben, aber dies bedeutet nicht, dass wir nicht vom gleichen Schöpfer kommen. In Wahrheit trennen uns keine großen Gräben, es unterscheiden uns nur kleine Linien.

Hat Ihre Familie nach dem Anschlag auch Unterstützung von der katholischen und evangelischen Kirche oder anderen christlichen Organisationen erhalten?

Die waren alle da. Ich bedanke mich sehr für ihre Unterstützung. Es gab eine sehr große Gemeinschaft der Liebe. Deutsche, Türken, Kurden, alle Glaubensgemeinschaften. Wenn ich eine ausschließen würde, würde ich sündigen. Jede Gemeinschaft hat geholfen. Und dies kommt daher, weil unsere Gesellschaft aus großer gegenseitiger Liebe besteht. Trotz des unterschiedlichen Glaubens haben wir doch großen Respekt voreinander.

Haben die Täter oder deren Eltern und Anwälte im Laufe der 20 Jahre einmal den Kontakt zu Ihrer Familie gesucht?

Nie. Es gab keinen Versuch, Reue zu zeigen oder sich bei uns zu entschuldigen.

Nach der Verbüßung ihrer langjährigen Jugendstrafen sind die wegen Mordes verurteilten vier Brandstifter längst wieder frei. Könnten Sie diesen Tätern heute in die Augen schauen und mit ihnen über den Anschlag reden?

Ich möchte mit diesen Personen nicht reden. Das einzige, was ich ihnen sagen würde, wäre: Ich überlasse euch Gott.

Wird Gott den Tätern vergeben?

Der Islam ist die Religion der Barmherzigkeit. Wenn ich die Täter Gott überlasse, dann bin ich mir sicher, dass auch diese Morde vergeben werden können. Nicht ich, Gott soll vergeben. Dann ist diese Sache von mir weg. Gott soll dem vergeben, der Schuld hat. Wenn Gott vergibt, dann werden die Menschen auch vergeben. Ich wünsche mir, dass Gott den Tätern vergibt.

Mitarbeit: Hüseyin Topel