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Geschichte

23 Jahre Sivas und Başbağlar: Wie ist die Lage der Aleviten heute in der Türkei?

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Morgen jährt sich ein dunkles Kapitel der türkischen Geschichte: Vor 23 Jahren wütete im zentralanatolischen Sivas ein fanatisierter Mob und steckte ein Hotel in Brand, in dem ein alevitisches Kulturfestival stattfand. 37 Menschen starben. Seitdem hat sich die Lage der Aleviten in der Türkei deutlich verbessert, doch der Staat weigert sich immer noch, das Ereignis als das anzuerkennen, was es war: Ein Massaker.

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Bei dem sog. Madımak-Massaker kamen in Sivas am 2. Juli 1993 infolge eines Brandanschlages 37 Menschen ums Leben. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses erhob bereits im Jahre 2013 schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden.
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Dass am 2. Juli 1993 im Rahmen des Pir Sultan Abdal Festivals eine Konferenz im Madımak-Hotel in Sivas abgehalten wurde, dass Aleviten und Sunniten sich dort zusammengeschlossen hatten, das war der aufgepeitschten Menge ein Dorn im Auge. Dieser Dorn wuchs zu einem Keil und dieser Keil entflammte vom Hass derer, die zu der unmenschlichen Tat in der Lage waren, die vor 23 Jahren die Aleviten in der Türkei erschütterte. „Mir kamen die Tränen, ich habe geweint. Es war unerträglich, dass Menschen wirklich zu so etwas in der Lage sind, dass so ein Mob zu so einer Tat fähig ist“, sagt Seyran Ateş heute rückblickend.

Die Menschenrechtsanwältin und Frauenrechtlerin ist selbst Alevitin. Sie spricht heute über diese Zeit als eine dunkle Phase, in der die Situation und vor allem der religionspolitische Diskurs in der Türkei deutlich aufgeheizter war als heute. Obwohl sich in den Jahren nach den Massakern – denn am 5. Juli wurden auch in Erzincan mehrere Menschen, mehrheitlich Sunniten auf grausame Weise umgebracht – die Situation zwischen Aleviten und Sunniten entspannte und der Dialog allmählich besser wurde, sieht Ateş aktuell einen deutlichen Rückschritt. „Es ist durchaus so, dass Aleviten wieder um ihre Existenz kämpfen müssen. Sie haben gerade wieder Angst und befürchten, dass sie sich erneut verstecken müssen“, sagt die Juristin im Gespräch mit DTJ.

Trotz vorgeblicher Bemühungen seitens der Regierung, den Dialog mit den Aleviten zu vertiefen, seien vor allem die Aleviten in der Diaspora, aber auch weite Teile der alevitischen Gemeinschaft in der Türkei skeptisch, nachdem Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Gruppe von alevitischen Vertretern in den Ak Saray eingeladen hat. Man traue dieser Geste nicht so recht: „Ich habe viele Leute gefragt, ob es jetzt eine neue Freundschaft zwischen Tayyip Erdoğan und der alevitischen Gemeinde gibt. So wurde das nicht gesehen, sondern im Gegenteil sehr kritisch. Das war vielmehr eine Art Show-Effekt, nur um die gewünschte Aufmerksamkeit zu erreichen.“ Sie wünsche sich, „dass das endlich aufhört“ und der türkische Staat in einen echten Dialog mit der alevitischen Gemeinde trete, so die Menschenrechtlerin.

Immer wieder ist sowohl bei den Aleviten in der Türkei als auch aus der alevitischen Diaspora zu hören, die AKP wolle die Aleviten assimilieren. So bestehe nach wie vor das Problem, dass in vielen Dörfern, in denen hauptsächlich Aleviten leben, Moscheen gebaut werden und keine Cem-Häuser. Dies geschehe parallel zur vermeintlichen Dialogpolitik Erdoğans, so Ateş. Daran erkenne man, dass „die Aleviten noch nicht die volle gesellschaftliche Akzeptanz haben, die man sich wünscht“.

Manche Aleviten sehen sich als nicht dem Islam zugehörig. Dieser Teil in der alevitischen Bevölkerung ist jedoch in der Minderheit: Einer repräsentativen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge sehen sich 85% der Aleviten als selbstverständlichen Teil der islamischen Gemeinschaft. Dennoch gibt einen Streit mit der restlichen islamischen Welt, insbesondere ihrem sunnitischen Teil, da die Aleviten als legitimen Nachfolger des Propheten Muhammad dessen Schwiegersohn Ali betrachten.

Die insgesamt berechtigte Furcht vieler Aleviten, sie müssten sich künftig wieder verstecken und eventuell assimilieren lassen, kommt nicht von ungefähr. Während Aleviten den Brandanschlag von Madımak als Massaker bezeichnen, lehnten es alle bisherigen türkischen Regierungen ab, diesen Anschlag als solches anzuerkennen. Wohlgemerkt ist damit nicht nur die AKP-Regierung gemeint, sondern vor allem auch ihre Vorgänger. Die türkischen Behörden sprechen in diesem Zusammenhang bis heute von einem „tragischen Vorfall“, initiiert durch einige Provokateure. Selbst die Tatsache, dass ein Mob von Extremisten die Rettungsmaßnahmen behinderten und sich Augenzeugenberichten zufolge sogar Militäreinheiten vom Tatort zurückzogen, während das hölzerne Hotel lodernd niederbrannte, ändert nichts an der offiziellen Wortwahl.

Umso mehr braucht es laut Seyran Ateş endlich einen aufrichtigen Dialog, einen, wie sie die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit versprach und in großen Teilen auch umsetzte. Den religiösen Minderheiten ging es unter der AKP so gut wie unter keiner anderen Partei in der Türkischen Republik. Mittlerweile sieht das allerdings wieder anders aus.

Für Ateş ist die andauernde Furcht vor einer Assimilierung ein Hemmnis. „Bei einigen ist es schon teilweise paranoid, das sagen sogar Aleviten. Die sagen ‚Es muss aufhören, dass ihr euch ständig verfolgt fühlt!'“, so die Berliner Anwältin, die selbst schon mehr als genug eigene Erfahrungen mit Fanatikern und Extremisten machen musste. Den Dialog müssten auch die Sunniten vermehrt auf zivilgesellschaftlicher Ebene suchen. Denn zwischen Sunniten und Aleviten besteht eine jahrhundertealte Tradition des friedlichen Zusammenlebens. Es sind sehr viele Gemeinsamkeiten in Vergessenheit geraten, an die es sich dringend zu erinnern gilt. Vielleicht wären die Jahrestage von Madımak und Başbağlar ein guter Anlass, neue Initiativen für bedingungslose Freundschaft und gegenseitigen Respekt zu starten.