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Politik

Die Toten des Meeres: Sie müssen erst sterben, damit sie die Staatsbürgerschaft bekommen

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Lampedusa 2013: Vor dem inzwischen als „Flüchtlingsinsel“ bekannten Vorposten Italiens zwischen Tunesien und Sizilien ertrinken 300 bis 400 Migranten. Die Regierung in Rom ordnet ein Staatsbegräbnis an – und verleiht den Toten posthum die italienische Staatsbürgerschaft. Den Leichen, wohlgemerkt. Die lebend Geborgenen werden wegen illegaler Einreise kriminalisiert. Angehörige der – nunmehr italienischen – Opfer dürfen nicht einreisen. Da sie die Toten so nicht identifizieren können, werden diese anonym bestattet.

Malta 2015: Rund 700 Flüchtlinge ertrinken; 24 Leichen werden geborgen. Ein katholischer Bischof und ein muslimischer Imam zelebrieren eine interreligiöse Trauerfeier an den 24 schlichten Särgen; die Medien sprechen von einer «bewegenden Zeremonie». Blumen für alle Opfer werden ins Meer geworfen. Die Toten sollen auf Maltas Zentralfriedhof Addolorata beigesetzt worden sein.

Die Flüchtlingsroute mitten über das Mittelmeer ist die gefährlichste, die tödlichste. Seit dem Zweiten Weltkrieg 1945 starben nie mehr so viele Menschen auf dem „Mare Nostrum“ wie 2016. Reiner Sörries, Theologe, Kunsthistoriker, Archäologe und
Trauerforscher, wollte der Sache auf den Grund gehen: Wie verfährt man in der EU und in unserem Land mit den Toten des Meeres? Wie sehen die Gräber für Ertrunkene und Bootsflüchtlinge aus? Entsprechende Anfragen bei den zuständigen Behörden wurden zwar beantwortet – liefen aber doch ins Leere.

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), ließ mitteilen, dass es keine „gemeinschaftsrechtliche Richtlinie zur Bestattung von Flüchtlingen“ gebe. Jeder EU-Mitgliedstaat sei selbst für entsprechende Fälle auf seinem Territorium zuständig. Das Büro von EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos antwortete wesentlich ausführlicher, aber in der Sache gleichlautend: Die Europäische Union
habe in dieser Sache „keine Rechtsetzungsbefugnis“.

Man ist geneigt, von einem „Freischwimmerzeugnis“ der betroffenen Behörden vor Ort zu sprechen, wäre dies nicht in diesem Kontext eine allzu zynische Wortwahl. Auf Lampedusa wurden die toten Flüchtlinge zunächst auf dem Inselfriedhof Cala Pisana bestattet, in einer eigenen Abteilung „ohne Namen“. Auf den Gräbern steht etwa „03 n. 5“ (der fünfte Tote 2003) oder „drei Leichen, 8. März 2011“.

Eine Schande für Europa – über die Schande der Flucht hinaus. Die Bürgermeister vom Lampedusa setzten und setzen sich zwar für eine würdigere Beisetzung der Namenlosen ein; aber es fehlt das Geld – oder es regt sich Unmut in der Bevölkerung. Inzwischen werden immer häufiger tote Migranten nach Sizilien gebracht. Sind schlichte Holzkreuze angemessen, die die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ausdrücken? Schließlich werden viele der Toten Muslime gewesen sein.

Sörries recherchierte auch zur Lage am Evros, dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. 2010 gab es Berichte über ein Massengrab in der griechischen Ortschaft Sidros, die überwiegend von Muslimen bewohnt wird. Der dortige Mufti lässt die toten Migranten nach den Vorschriften des Islam bestatten – nachdem sie für die vorgeschriebene Wartezeit von 80 Tagen auf eine Meldung von Angehörigen in der Kühlzelle aufbewahrt wurden. Pro Leiche bekommt der beauftragte Bestatter 700 Euro. Und die Toten hatten ihr ganzes Geld bereits den Menschenhändlern gegeben.

Auf mehreren Ägäis-Inseln gibt es inzwischen Friedhöfe für tote Flüchtlinge, offizielle wie inoffizielle. Doch über ihnen liegt der Mantel der Beschämung. An die Stelle der Behörden treten engagierte Menschen und Nichtregierungsorganisationen, die, so Sörries, „mit den Toten so nicht leben wollen“. Und er berichtet vom Beispiel des
spanischen Bestattungsunternehmers Martin Zamora.

Zamora kümmert sich schon seit 1999 um jene Leichen, die vergeblich versuchten, die Straße von Gibraltar zu überwinden. Mit Fundsachen der Toten macht er sich in Marokko auf die Suche nach Verwandten, um ihnen zumindest den Angehörigen zurückzubringen. Man kennt ihn dort inzwischen; und in rund 600 Fällen hatte er Erfolg – unentgeltlich. (dpa/dtj)