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Gesellschaft

Adalet-Protestmarsch – Birlikte gegen Erdoğan

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Für die Gerechtigkeit: Kemal Kilicdaroglu läuft von Ankara nach Istanbul, im Regen, im Sturm und in der Hitze. Die Regierung verspottet seine Protestaktion. Inzwischen ist er in Istanbul angekommen – mit ihm Hunderttausende. Kilicdaroglu beweist: Eine andere Türkei ist möglich – wenn alle mitmachen. 

Von STEFAN KREITEWOLF

Weiße Mütze, weißes Hemd, weißes Schild: So steht er da. In ausgelatschten Schuhen, erschöpft, aber glücklich. „Onkel Kemal“ ist angekommen. Und mit ihm Hunderttausende, die Fahnen mit dem Wort „Adalet“ (deutsch: „Gerechtigkeit“) schwenken. „Onkel Kemal“: So nannte ihn die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Aber Kemal Kilicdaroglu ließ sich nicht beirren, und lief immer weiter. Kilicdaroglu ist Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP). Vor drei Wochen lief er los. 

Kaum jemand nahm in für voll, als er ankündigte, von Ankara nach Istanbul marschieren zu wollen. Der Marsch sollte auf das Schicksal politischer Häftlinge aufmerksam machen, allen voran das seines Parteifreunds Enis Berberoglu. Eine für Erdoğan offenbar so kuriose Aktion, dass er den „Adalet Yürüyüsü“ (deutsch: „Gerechtigkeitsmarsch“) nicht als Bedrohung wahrnahm. Er ahnte nicht, dass er mit dieser Einschätzung – die anfangs von den meisten Oppositionsparteien geteilt wurde – kolossal falsch liegen würde. 

Dass am Sonntag mehr als eine Million begeisterte Menschen mit Fahnen, Plakaten und Transparenten den Vorsitzenden einer Oppositionspartei empfangen durften und weit und breit keine Wasserwerfer zu sehen waren, war so nicht vorauszusehen. Das Happening im Istanbuler Stadtteil Maltepe grenzt für viele Türkeibeobachter an ein kleines Wunder. Und das alles wegen „Onkel Kemal“, der diesem spöttischen Spitznamen längst entwachsen ist.

Größte Massenbewegung seit Gezi-Protesten

Erdoğan muss sich nun mit der größten regierungskritischen Massenbewegung seit den Gezi-Protesten vor vier Jahren auseinandersetzen. Kilicdaroglu, der nach einer Reihe von Wahlniederlagen und der ständigen Bedrohung durch Erdoğans Sicherheitsapparat geschwächt schien, ist der neue Anführer der türkischen Opposition. Dass ist auch deswegen bemerkenswert, weil die türkische Opposition traditionell zerstritten ist. Ob der Protest tatsächlich eine „Neugeburt der Türkei“ sein wird, wie es Kilicdaroglu formulierte, bleibt abzuwarten. Für den Moment scheint er die wichtigsten oppositionellen Kräfte des Landes geeint zu haben. 

Die Bewegung zeigt außerdem: Eine andere Türkei ist möglich. Erdoğan repräsentiert nicht das gesamte Land. Das zeigte bereits das umstrittene Verfassungsreferendum, bei dem fast 50 Prozent gegen die „Evet“-Kampagne des Staatspräsidenten votierten. Erdoğan bleibt aber weiterhin mächtig. Noch immer sitzen tausende Oppositionelle im Gefängnis. Noch immer geht er gegen ganze Parteien vor, zum Beispiel gegen die prokurdische Partei HDP und deren Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Noch immer bezichtigt er die Gülen-Bewegung als Drahtzieher des gescheiterten Putsches im vergangenen Juli. 

„Onkel Kemal“ will trotzdem weiterkämpfen. Es wird darauf ankommen, ob er die Opposition – aus Islamisten, kurdischen Nationalisten, Laizisten, Linken, Sozialisten und Sozialdemokraten – einen kann. „Birlikte“ (deutsch: „gemeinsam“) muss die Opposition kämpfen. Dann kann sie Historisches erreichen. 

Das erinnert an einen anderen Kampf und einen anderen Kemal. Die Rede ist von Mustafa Kemal Atatürk, dem „Vater der Türken“ und Gründer der CHP. Er kämpfte vor etwas weniger als 100 Jahren mit Erfolg für das gleiche Ziel: Gerechtigkeit für alle in der Türkei.