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Gesellschaft

Freude über ein 4,40-Euro-Stipendium

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Unser Autor ist seit zwei Monaten Austauschstudent in Kairo. Dort lernt er vor allem durch seine afrikanischen Mitbewohner im Studentenheim kennen, wie jene Menschen Glück definieren, die auf der Schattenseite des Lebens ihr Dasein fristen. (Foto: rtr)

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Al-azhar Universität in Kairo
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Seit mehr als zwei Monaten befinde ich mich nun aufgrund eines Auslandssemesters in Ägypten. Warum ich Ägypten für mein Auslandssemester ausgesucht habe, hat viele Gründe. Der wichtigste davon ist, die arabische Sprache vor Ort, weit weg von zu Hause, lernen zu können. Als angehender Theologe findet man dieses Land auch unbeschreiblich, ja geradezu atemberaubend – nicht allein aufgrund der Gastfreundschaft der Menschen, sondern vor allem auch der Rolle, die diese für viele wichtige Persönlichkeiten der Weltgeschichte gespielt hatte. Abraham, Moses und Jesus, so verraten uns der Koran und die Bibel, verweilten längere Zeit in Ägypten.

Diese Faszination, die Ägypten, genauer genommen Kairo, beim Besucher auslöst, führt auch gleichzeitig dazu, dass man sich innerhalb kürzester Zeit vollends im Bann dieser Stadt befindet. Doch widmen möchte ich mich in diesem Artikel einigen persönlichen Erinnerungen, die mein künftiges Leben gewiss prägen werden.

Ich habe nie zuvor in schweren Verhältnissen leben müssen. Meine beiden Heimatstädte, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei, zeigten mir keineswegs das ärmliche Dorfleben. In beiden Städten lebe ich in guten Verhältnissen. Vor meiner Abreise war ich neugierig auf das Land und recherchierte im Internet über den Alltag in Ägypten. Auf Stromausfälle, Armut oder schwere Lebensverhältnisse hatte ich mich im Voraus vorbereitet.

Jeden Tag bedankte ich mich einerseits bei Gott und andererseits schämte ich mich aber auch. Das Leben, das ich in Deutschland habe, kam mir nie gut genug vor. Ich war nicht einmal mit meinem Bafög zufrieden oder kaufte mir neue Klamotten, obwohl ich zuhause welche hatte, die ich kaum trug. In Ägypten sah das jedoch anders aus.

Ich wohne in einem Studentenheim mit Studenten aus ganz Afrika, deren Leben genau das Gegenteil von meinem ist. Ich habe Geld und Kleidung, sie haben weder das Eine noch das Andere. Ich habe ein Smartphone und IPad, sie haben weder ein Handy noch wissen sie, was ein IPad überhaupt ist. Sie waren mit ihrem Leben zufrieden und ich beschwerte mich über meines. Sie waren bescheiden und ich verwöhnt.

Wenn ein Abendessen in Ägypten ein halber Monatslohn in Somalia ist

In den ersten Tagen nach meiner Ankunft, aufgeregt und froh über den Aufenthalt in Ägypten, brach ich jeden Tag hastig und lautstark aus dem Studentenheim aus, um zum einen von den billigen Verhältnissen in Ägypten zu profitieren und zum anderen den schönen Sommerabend im heißen Ägypten zu genießen. Dieses Verhalten führte ich fort, bis ich mit einem Somalier in ein kurzes Gespräch verwickelt wurde.

Nachdem ich zum ersten Mal nach einer Woche abends im Studentenheim anzutreffen war, kam er mit einer Teekanne und Zucker in der Hand zu mir ins Zimmer und reichte mir eine Tasse Tee. Wir setzten uns auf den Boden und begannen zu reden. Ich erzählte ihm in meinem gebrochenen Englisch-Arabisch über mein Leben in Deutschland und über die Verhältnisse dort. Nachdem er anfing über sich zu erzählen, hörte ich nach einiger Zeit auf, ihm zuzuhören. Ich ließ mir einen Satz durch den Kopf gehen. Er sagte mir, strahlend, dass der monatliche Beitrag seines Stipendiums, wofür er hart in Somalia büffeln musste, 40 Cuneyh betrage. Das sind umgerechnet 4,40€! Ich überlegte mir, wie viel ich wohl für überflüssige Dinge seit meiner Ankunft ausgegeben hatte. Mein letztes Abendessen selbst betrug 35 Cuneyh, obwohl es im Studentenheim Essen gab. Er aber schätzte sich überglücklich über den monatlichen Beitrag von 40 Cuneyh.

Ein weiterer Moment, der mich zutiefst erschütterte, war mein spontanes Gespräch mit meinem Zimmergenossen aus Gambia. Ein sehr extrovertierter, lebensfroher Mensch.

Kinder, die ihre Eltern nie sahen

Aufgrund seiner offenen Art sprach er mich immer wieder abends an und bot mir sogar immer an, Arabisch zu reden, damit ich nach meinem 6-monatigen Aufenthalt nicht mit leeren Händen nach Deutschland zurückgehen würde.

In einem dieser Gespräche fingen wir wieder mit dem deutschen Fußball an, für den er sich sehr interessiert. Nachdem er mir wieder alle Spielernamen von Bayern München und Dortmund aufgezählt hatte, sagte er, dass ich auch mal was von mir erzählen und nicht nur zuhören soll. Ich begann über meine Familie zu sprechen, da mir hierfür die Vokabeln bekannt waren. Nachdem ich ihn über seine Familie fragte, erzählte er mir über seine 16 Geschwister. Über jeden Einzelnen. Über ihr Leben in den USA, in Kanada, in Frankreich, in Spanien und in der Türkei. Er erzählte mir, dass vier seiner Geschwister wegen einer Krankheit in jungen Jahren starben und dass er die restlichen Geschwister bis auf seine kleine Schwester nie gesehen habe. Als ich nach seinem Vater und seiner Mutter fragte, ließ er den Kopf hängen, Tränen waren in seinen Augen. Genau wie seine Geschwister habe er seinen Vater und seine Mutter auch nie gesehen. Die Familie befand sich in einem finanziellen Engpass und musste deshalb ihn und seine kleine Schwester zurücklassen. Der Vater sei Händler und die Mutter folgte seinem Bruder nach, so die letzte Nachricht von vor zehn Jahren.

Die Verwandten konnten sich nicht um die beiden kümmern, woraufhin er zu arbeiten anfing. Mit 9-10 Jahren fing er an, in einer Tankstelle zu arbeiten, wo er auch schon mal geschlagen oder auch ohne Lohn nach Hause geschickt wurde. Doch dann erfuhr er von einer türkischen Schule in der Nähe seiner Arbeitsstelle. Die Schule lud alle Schülerinnen und Schüler zu einer Prüfung ein, welche es galt, zu bestehen, um angenommen zu werden.

Er versuchte sein Glück, schrieb sich ein und bestand die Prüfung. Heute studiert er an der al-Azhar-Universität im vierten Jahr und spricht neben seiner Muttersprache noch Arabisch, Französisch, Englisch und Türkisch. Als Kleinkind lernte er neben seinem Großvater noch den Koran, Hadithe (Aussprüche des Propheten) und zahlreiche Freitagspredigten auswendig.

Jeder Tag ein Grund, Gott für das, was man hat, zu danken

Ich frage mich, ob ich mich in die Situation dieser beiden hineinversetzen könnte, wenn ich nicht in Ägypten wäre. Klar entwickle ich Empathie, wenn ich Bilder im Fernsehen von armen, hungrigen Menschen sehe. Doch mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören und dieses Gefühl vor Ort zu entwickeln, hat mir stets gezeigt, dass meine Gefühle nicht gestorben sind und es immer noch die Möglichkeit gibt, diesen Menschen die Hand zu reichen.

Autoreninfo: Samet Er studiert am Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen und macht aktuell ein Auslandssemester in Ägypten.