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Menschenrechte

Albayrak: „Der EGMR kann nicht auf türkische Scheingerichte warten“

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Für Oğuzhan Albayrak ist die Türkei seit dem umstrittenen Putschversuch im Jahr 2016 kein Rechtsstaat mehr. Früher im Dienste des Staates, stellt er sich jetzt als Menschenrechtsaktivist gegen ihn.

Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 hat sich die Zahl der türkischen Asylwerber in Deutschland versechsfacht. Darunter befinden sich auch viele ehemalige Diplomaten und Staatsbedienstete. Oğuzhan Albayrak ist einer von ihnen. Nach etlichen Jahren im türkischen Außenministerium, für das er unter anderem in Aserbaidschan und Kuwait tätig war, lebt er jetzt in Deutschland und engagiert sich als Geschäftsführer des Vereins „Human Rights Defenders“ (HRD) für Menschenrechte. Die deutsche Sprache beherrscht er schon seit der Schulzeit. Im DTJ-Gespräch erläutert er seine Beweggründe und spricht seine Herzensthemen an.

DTJ: Jüngst sorgte der Tod von Mustafa Kabakçıoğlu für großes Aufsehen. Er war wie Sie auch einst im staatlichen Dienst tätig und starb am Ende in seiner Zelle auf einem Plastikstuhl. Was empfanden Sie, als Sie die Fotos sahen?

Albayrak: Ich werde die Bilder nie vergessen. Der weiße Plastikstuhl ist für mich zu einem Symbolbild für das Erdoğan-Regime geworden – nämlich für seine Skrupellosigkeit. Wir als HRD sind am Wochenende gegen diese Skrupellosigkeit auf die Straße gegangen.

DTJ: Mussten Sie bei den Bildern auch an Ihr eigenes Schicksal und Ihre Flucht denken?

Albayrak: Natürlich. Man braucht auch gar nicht vom Schlimmsten ausgehen. Menschen, die dem Regime ein Dorn im Auge sind, werden auf verschiedenste Weise in die Zwickmühle getrieben.

DTJ: Wie?

Albayrak: Es werden beispielsweise die Familien dazu benutzt. Nachdem ich aus dem Dienst entlassen wurde, habe ich in Aserbaidschan gehört, dass Kinder und Frauen festgehalten wurden, um die Männer beziehungsweise Väter in die Türkei zu locken. Aus diesem Grund beschloss ich, direkt aus Aserbaidschan nach Deutschland zu kommen.

DTJ: Viele Menschen wurden auch wieder freigelassen, nachdem sie verhaftet worden waren.

Albayrak: Ja, das stimmt. Allerdings finden die Betroffenen dann kaum mehr Arbeitsmöglichkeiten. Dies gilt auch für Menschen, die nicht verhaftet, sondern nur aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Vor allem Gülen-Anhänger wurden in Renten- und Sozialversicherungsbehörden mit einem sogenannten „Code 36“ gebrandmarkt. In der Privatwirtschaft zögern deswegen viele Unternehmer, sie zu beschäftigen, weil sie mit staatlichen Schikanen und Sanktionen rechnen. Dadurch werden Menschen in eine existenzielle Not getrieben, auch wenn sie aus der Haft entlassen wurden.

DTJ: In den Anklageschriften taucht immer wieder die App „Bylock“ auf – meistens auch als das einzige Beweismittel. Wie kann eine App als Beweis für die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation dienen?

Albayrak: Bylock war eine Messenger-App à la WhatsApp oder Viber. Bis einige Monate vor dem angeblichen Putschversuch konnte sie im Apple-Store oder bei Google Play heruntergeladen werden. Es ist absurd, dass Menschen, die eine WhatsApp-Alternative benutzt haben, jetzt mit derartigen Vorwürfen konfrontiert werden. 2019 hat die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen eindeutig entschieden, dass Bylock nicht als Beweismittel gelten darf.

DTJ: Immer mehr Folterfälle kommen in letzter Zeit ans Tageslicht. Hatte die Türkei dieses Thema nicht schon hinter sich gelassen?

Albayrak: Leider ist Folter in der Türkei kein neues Phänomen. In den 80er und 90er Jahren waren linke Oppositionelle, Aleviten und Kurden Opfer dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Heute, vor allem nach dem 15. Juli 2016, sind immer mehr Gülen-Anhänger betroffen. Obwohl die Türkei alle internationalen Abkommen und Verträge gegen Folter unterzeichnet hat, hält sie sich nicht an die Bestimmungen. Im Gegenteil: Das Regime beschützt sogar diese Verbrecher mit neuen Gesetzen. In den letzten Wochen wurden zwei Kurden aus einem militärischen Hubschrauber geworfen. Was ist passiert? Nichts!

DTJ: Ist es in den letzten Jahren mehr geworden?

Albayrak: Türkische Menschenrechtsvereine haben zwischen 2013-2018 jährlich mehr als 3000 Beschwerden zu Folter registriert. Die Dunkelziffer ist natürlich viel höher. Nur knapp die Hälfte dieser Beschwerden wird jährlich von der Staatsanwaltschaft untersucht – tatsächlich ermittelt wird aber in nur rund 177 Fällen. Am Ende blieben letztes Jahr 95% der Fälle unbestraft.

DTJ: Was passiert mit diesen Menschen, können Sie die Folteropfer erreichen?

Albayrak: HRD bietet sowohl Opfern in der Türkei als auch jenen, die nach Deutschland fliehen konnten, psychische Unterstützung an. Des Weiteren versuchen wir die internationalen Institutionen darauf aufmerksam zu machen. Wir haben mehrere Beschwerden im UN-Ausschuss gegen Folter eingereicht. Auch Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Hier in Deutschland können wir dank das Weltrechtsprinzip gerichtlich gegen Folter in der Türkei vorgehen.

DTJ: Lassen sich die türkischen Behörden von internationalen Institutionen überhaupt noch beeindrucken?

Albayrak: Die Türkei ist UN-Mitglied und auch Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind für sie als Mitglied des Europarats rechtlich bindend. Doch wie auch beim Kavala-Urteil zu sehen war, setzt sich das aktuelle Regime über die Urteile hinweg. Das wird aber nicht ewig halten. Unser Verein dokumentiert die Fälle und leitet Unterlagen und Beschwerden an die jeweiligen Institutionen weiter.

DTJ: Es sieht so aus, als würde der EGMR mit wichtigen Urteilen noch zögern.

Albayrak: Ich kann die Richter in Straßburg verstehen, wenn sie von tausenden Anträgen überflutet werden. Was ich aber nicht verstehen kann, ist das Beharren auf den innerstaatlichen Rechtsweg. 2016 wurden mehrere zehntausend Anträge vom EGMR wegen diesem Grund zurückgewiesen. Gerade vorletzte Woche hat ein türkisches Bezirksgericht die Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts ignoriert. Wie kann man in so einer Situation auf die türkischen Scheingerichte warten? Diese Prozesse sind spätestens nach dem angeblichen Putschversuch unter die Kontrolle des Regimes geraten.

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