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Gesellschaft

Ali Baba, der Staatenlose

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Ich möchte Euch die Geschichte von Ali Baba, dem Staatenlosen, erzählen. Es ist eine Heimatgeschichte über örtliche und gedankliche Grenzen hinweg…

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Ali Baba, der Staatenlose
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GASTBEITRAG Um seine Familie in Koçgiri (dem heutigen Sivas) zu unterstützen, reiste Ali in jungen Jahren nach Istanbul. Er war Kurde, bekam zunächst keinen Job und verkaufte deshalb Maiskolben auf der Straße. Da er kein Geld hatte, um seinen Kunden Salz zu den Maiskolben anzubieten, kochte er sie in Meerwasser.

Seine Familie ist kurze Zeit später nach Istanbul nachgezogen und konnte Ali unterstützen. Dadurch hatte er die Chance, an einer Abendschule sein Abitur nachzuholen, wobei er währenddessen immer auch in Fabriken arbeitete. Die Schule weckte sein politisches Interesse und Ali trat der Gewerkschaft bei. Als das Unternehmen, für das er arbeitete, monatelang seine Arbeiter nicht entlohnte, trat er in einen 30-tägigen Hungerstreik. Daraufhin wurden die Medien auf ihn aufmerksam und die Firma musste ihre Arbeiter endlich entlohnen.

Rustikale Überredungsmethoden gegenüber der Schwiegermutter

1976 hat er über Verwandte erfahren, dass er eine junge entfernte Cousine in Berlin habe. Er begann ihr Liebesbriefe mit Gedichten zu schreiben, damit sie sich in ihn verliebte. Er wollte sie heiraten und nach Deutschland kommen. Ein Jahr später kam er auch ohne Heirat nach Berlin – als politischer Flüchtling. Seine Cousine Sevim traf er trotzdem und verliebte sich tatsächlich in sie. Sevims Mutter war von Anfang gegen diese Beziehung, weil sie glaubte, Ali wolle ihre Tochter nur, um an das begehrte Aufenthaltsrecht zu kommen. Sevim fuhr mit ihrer Mutter von Kreuzberg in den Grunewald und drohte sie, die Mutter, dort auszusetzen, wenn sie der Hochzeit nicht zustimmte. Der Mutter blieb nichts anderes übrig, weil sie der deutschen Sprache weder in Wort noch Schrift mächtig war, und so stimmte sie der Vermählung schließlich zu.

Der Pazifist Ali, der mittlerweile in Deutschland lebt, verweigerte Ende der 80er Jahre den türkischen Wehrdienst und wurde daher von der Türkei ausgebürgert – somit war er staatenlos. Während jener zwei Jahre, die er auf seine deutsche Staatsbürgerschaft warten musste, verstarb sein Vater in der Türkei. Auf Grund des gegen ihn verhängten Einreiseverbots konnte er bei der Beerdigung seines eigenen Vaters nicht zugegen sein.

Und dieser Ali Baba ist mein Vater Ali Koçak, der erfolgreiche typisch deutsche Geschäftsmann, der in Berlin seit 1986 als erster aus der Türkei eingewanderter Finanz- und Versicherungsberater tätig ist. Ali und Sevim sind übrigens nun seit 36 Jahren verheiratet und ich bin ihr einziges Kind. Also ist heimatlos nicht das richtige Wort, um die Situation meines Vaters, zu beschreiben, als die Türkei ihn ausbürgerte. Er war eher staatenlos – denn seine Heimat hatte er längst hier in Berlin gefunden.

Was ist nun mit mir?

Heimatlos? Staatenlos? Kurde? Türke? Deutscher? Vaterland, wo? Mutterland gibt’s nicht. Mein Schwiegervater würde sagen: „Kauf Dir ein Stück Land, dann hast Du Dein eigenes Land. Ist gerade im Sonderangebot. Ein Hektar für 20.000 Euro.“

Ich werde bald in der Türkei heiraten und eine Existenz gründen. Seit drei Jahren pendle ich zwischen Antalya und Berlin. Grenzen fallen weg. Globalisierung ist in aller Munde. Wieso reden wir hier noch darüber, ob es eine doppelte Staatsbürgerschaft überhaupt geben soll oder nicht? Typisch Deutsch ist doch, dass ich eben beides in mir trage. Wenn es um Wirtschaft geht, können alle Grenzen schnell vergessen werden. Warum geht das nicht, wenn es um Menschen geht?! Die beiden Pässe symbolisieren mein Zuhause und meine Wurzeln stehen – wenigstens zum Teil – für das, was ich heute bin. Ein Mitglied der deutschen Gesellschaft, das nicht nur arbeitet und Steuern zahlt, sondern auch Arbeitsplätze schafft, wodurch wieder Steuereinnahmen generiert werden.

Es muss auch endlich die Visafreiheit für türkische Mitbürger garantiert werden. Welchen Restriktionen meine Verlobte – eine türkische Staatsbürgerin – entgegen sehen muss, um trotz Einladung endlich ein Visum zu erhalten, ist einfach absurd.

Autoreninfo: Ferat Koçak, 1979 geboren, Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin im Jahr 2007 abgeschlossen, ehemaliger Kulturreferent des Studierendenparlamentes der Freien Universität Berlin; beständig im sozialen Bereich (NGOs) aktiv, z.B. als ehemaliger Geschäftsführer des Türkischen Wissenschafts- und Technologiezentrums Berlin e.V.; Projektbeauftragter im Kurdistan Kultur- und Hilfsverein, wo er das Projekt Berufsorientierung für Flüchtlingsfrauen und eine zweisprachige Kita betreut hat; Management Trainee Projektmanager und Vertreterbereichsleiter bei der Allianz, jetzt selbstständig als Geschäftsführer der Familien-Allianz-Agentur Koçak. Ist doppelter Staatsbürger und Mitglied von Typisch Deutsch e.V.