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Politik

Anklage aus dem Volk: „Wie viel Blut muss noch fließen, bis Erdoğan sein Präsidialsystem hat?“

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Bei einer Beerdigung wird Erdoğans Trauerkranz zerrissen. Ein Oberstleutnant erhebt die Stimme gegen seinen Dienstherren. Opferverwandte klagen nicht nur gegen die PKK, sondern immer häufiger gegen die AKP-Regierung. Im Volk setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass die Kinder des Landes Opfer politischer Machtspiele werden.

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Mehmet Alkan bei der Beerdigung seines gefallenen Bruders Ali Alkan
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Dreht sich die Stimmung in der Bevölkerung gegen die AKP?

In den vergangenen Wochen kam es bei Beerdingungen von Soldaten und Polizisten, die bei Kämpfen mit der PKK gefallen sind, mehrmals zu Protesten gegen Regierungsmitglieder und AKP-Abgeordnete.

Als am Sonntag in Osmaniye der in Şırnak getötete 32-jährige Hauptmann Ali Alkan zu Grabe getragen wurde, kam es zu Tumulten und Sprechchören gegen die Regierung und mehrere anwesende AKP-Abgeordnete. Mehmet Alkan, Bruder des Gefallenen und selbst Oberstleutnant der Armee, verbeugte sich über dem Sarg seines Bruders und hat danach eine viel beachtete, emotionale Anklage erhoben: „Was ist passiert, dass diejenigen, die bisher von ‚Lösung‘ [gemeint ist der Friedensprozess, Anm. d. Red.] gesprochen haben, jetzt von Krieg bis zum bitteren Ende sprechen?“ Selbst der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gesandte Trauerkranz wurde von wütenden Bürgern zerrissen.

Ähnliches trug sich am 20. August in Bursa zu. Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoğlu (AKP) nahm in der westtürkischen Millionenstadt an der Beisetzung des Soldaten Bahadir Aydın (26) teil, als sich nur wenige Meter neben ihm ein Mann erhob, der offensichtlich zur Trauergemeinde gehörte. An den Minister gewandt rief er mit ergriffener Stimme: „Herr Minister, wenn wir das Präsidialsystem gewählt hätten, wäre das nicht passiert. Nicht wahr? Das haben Sie gesagt! Wieviel Blut wird noch fließen müssen, bis ein Präsidialsystem gewählt worden ist?“

Immer mehr Türken sehen die AKP-Regierung verantwortlich

Er spielte damit darauf an, dass hohe Regierungsmitglieder mehrfach äußerten, die Eskalation der Gewalt wäre nicht eingetreten, hätte die AKP bei den Wahlen am 07. Juni die gewünschte absolute Mehrheit erhalten, um ein auf Präsident Erdoğan zugeschnittenes Präsidialsystem einzuführen. Erdoğan selbst sagte vor den Wahlen trotz seiner verfassungsmäßigen Neutralitätspflicht: „Gebt uns 400 Abgeordnete und lasst uns die Sache im Einvernehmen lösen.“ Die Szenen zeigen, dass im „einfachen Volk“ zunehmend die Ansicht vertreten wird, dass die Regierung die aktuelle Eskalation der Gewalt selbst verursacht hat, um bei den Neuwahlen im November erneut eine Mehrheit im Parlament zu erringen.

Noch während der Mann sprach, begannen die ersten Trauergäste, ihm zu applaudieren. Daraufhin entspann sich eine Dynamik, die erst in Sprechchöre, dann Buhrufe und letztendlich tumultartige Szenen mündete. Die wütende Menge brüllte ihm Beleidigungen zu, bewarf ihn mit Münzgeld und leeren Plastikflaschen. Daraufhin verließ der von Personenschützern abgeschirmte Minister fluchtartig die Veranstaltung.

Die Beisetzungen von Alkan und Aydın waren bei Weitem nicht die einzigen derartigen  Fälle. Zu ähnlichen Tumulten kam es auch auf Beerdigungen in allen Regionen der Türkei, unter anderem am 23. Juli in Şanlıurfa, am 25. Juli in Kırşehir, 28. Juli in Amasya, am 2. August in Antalya, am 5. August in Van und am 6. August in Izmir. Brisanz erhalten die Proteste deshalb, weil es sich um „den einfachen Anatolier“ handelt, der gemeinhin als staatstreu und obrigkeitshörig gesehen wird. Derartige Auflehnungen gegen anwesende Vertreter der Regierung waren bisher sehr selten, insbesondere innerhalb der konservativ-religiösen Gesellschaftsschichten, die die eigentliche Hauptwählerschaft der AKP bilden.

 

Ehemaliger Gül-Berater Takan: PKK-Operationen wegen sinkender Umfrageergebnisse gestoppt

Unterdessen behauptet Ahmet Takan, ehemaliger Berater von Abdullah Gül, in der Zeitung Yeniçağ, dass Erdoğan aufgrund der sinkenden Unterstützung für die AKP die Operationen der Sicherheitskräfte gegen die PKK gestoppt habe. Die Falle der getöteten Soldaten hätte die Unterstützung der AKP bei der Bevölkerung geschwächt, während im Osten die Unterstützung für die HDP fortdauerte.

In Istanbul haben sich währenddessen Frauen im Stadtteil Beyoğlu zu Friedensdemonstrationen versammelt. Die Initiative „Frauen für den Frieden“, die mehrere Frauenvereine umfasst, kam auf der Straße Mis zusammen. Hier veranstalteten sie unter dem Motto „Wir brauchen den Frieden“ eine Sitz-Aktion. „Wir werden als Frauen nicht schweigen. Die Waffen sollen schweigen. Wir brauchen den Frieden“ fassten sie ihre Forderungen zusammen. Eigentlich sollte die Kundgebung vor dem bekannten Galatasaray-Gymnasium stattfinden, die Polizei hat ihnen jedoch eine Versammlung an diesem Ort nicht gestattet.