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DTJ-Blog

Anschläge von Brüssel: Lektion eines türkischen Dörflers

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Anschläge, Brüssel, Terror, Terroristen, Allegorie
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Die Morgensonne wärmte seine linke Wange, als er an der Ägäisküste Richtung Izmir fuhr. Das blaue Verkehrsschild zeigte noch die verbliebene Strecke von 170 Kilometern bis zu dieser türkischen Großstadt an.

Nach drei Jahren der Sehnsucht wollte Sinan, der nun seit 25 Jahren in Düsseldorf lebte, seine Eltern im Landkreis Söke besuchen. Das väterliche Anwesen lag anderthalb Autostunden südlich von Izmir. Seine Frau blickte auf die azurblaue Wassermenge, die sich ihr bot. Seine zwei Söhne, zehn und sieben Jahre alt, freuten sich schon auf die Ankunft am großväterlichen Domizil. Zu Ostern wollte die Familie einen kurzen Besuch in der Heimat abstatten. Der Flug wäre zu dieser Jahreszeit günstiger und dazu schneller als die Autofahrt. Doch sie mochten es, mit dem Auto zu verreisen. Während der Fahrt gab es viel zu sehen.

Wollen wir eine kurze Rast einlegen?“, fragte Sinan, woraufhin seine von der Reise erschöpften Kinder auf dem Hintersitz vor Freude aufsprangen. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit bog er von der Hauptstraße ab und suchte nach einer geeigneten Stelle. Er bemerkte ein Waldhaus nicht weit weg von der Straße. Denn die Küstenstadt Ayvalık war von einem großen Waldgebiet umzingelt.

Sinan erfährt von den Anschlägen in Brüssel

Als er am Waldhaus ankam, stieg Sinan aus seinem Auto aus, während seine Familie geduldig auf ihn wartete. Ein alter Dörfler, der wohl das Motorgeräusch aus den offenen Fenstern seines Hauses vernahm, öffnete die Tür. Aus seinem Gesicht strahlte die berüchtigte türkische Gastfreundschaft, die nicht zu übersehen war. Der Mann erkannte in Sinan einen Reisenden und bot ihm an, sich zu verschnaufen.

Auf ein Handzeichen Sinans folgten ihm seine Frau und seine Kinder und gesellten sich zu ihm. Gemeinsam hockten sie sich mit ihrem Gastgeber vor dessen Waldhaus auf die Holzbänke, die einen großen Tisch, ebenfalls aus Holz, flankierten. Der Mann servierte heiße Linsensuppe in Schalen für seine Gäste und setzte sich zu ihnen. Nach einer kurzen Kennenlernrunde wollte der Dörfler wissen, wie lange die Reise gedauert habe und wohin sie ginge.

Seit fast drei Tagen sind wir unterwegs. Wir fahren nach Söke“, erwiderte ihm Sinan. Diese Antwort versetzte den Mann in Staunen.

Dann habt ihr bestimmt nicht gehört, was sich gestern in Brüssel ereignet hat?“, weckte der Mann Sinans Interesse.

Nein, was ist passiert?“

Drei Anschläge wurden am Brüsseler Flughafen verübt. Das Tatmotiv ist noch unklar. Aber es sind bestimmt wieder Extremisten aus dem arabischen Raum“, berichtete der Mann.

Nun war Sinan mit dem Staunen an der Reihe : „Wir haben leider nichts davon mitbekommen. Ich vermute auch, dass sie aus diesem Raum stammen“, mutmaßte Sinan, ohne zu wissen, welche Gruppierung sich in den nächsten Tagen dazu bekennen würde. Er war sich aber sicher, dass es wieder auf das Konto von ein paar „Islamisten“ gehen würde. 

In der Tat. Sie ziehen unseren Glauben auch in den Dreck.“

Sie haben recht. So leiden auch wir, harmlose Muslime, drüben unter einem Generalverdacht.“

Genau. Besonders ihr in Europa. Ihr lebt täglich mit Leuten zusammen, die denken, ihr seid mitverantwortlich für diese Untaten.“

Da stimme ich Ihnen zu.“

Terroristen ähneln einem Werkzeug

Weißt du, mein Sohn, wem diese Terroristen ähneln?“ Ohne auf Sinans Antwort zu warten, beantwortete er seine Frage selber: „Einem Werkzeug, das ich täglich bediene.“ Der Mann wurde für Sinan plötzlich rätselhaft. Was wollte er erzählen? Unter seinen fragenden Blicken stand der Mann auf und ging in seinen Geräteschuppen neben dem Waldhaus. Er holte ein ellenlanges Beil und stellte das Werkzeug auf den Holztisch neben den inzwischen halbleeren Suppenschalen. Dann nahm er wieder Platz.

Immer noch schaute Sinan verwirrt den Mann an und versuchte, sich etwas zusammenzureimen. Was hatte der Mann vor?

Die Terroristen, die in Ankara, Istanbul und nun in Brüssel ihr Unwesen getrieben haben, ähneln diesem Beil“, sagte der Mann. „Ich mache davon Gebrauch.“

Sinan jagte ein Schauder über den Rücken, als er diese Worte vernahm. Sollte der Satz Ich mache davon Gebrauch“ eine Anspielung auf seine Brutalität sein, die er hinter seiner freundlichen Maske verbarg?

Er schielte auf seine Frau und seine Kinder und überlegte sich, davonzufahren, ehe der Mann ihnen etwas anrichten konnte. Aber warum sollte der Mann sie dann zu einer morgendlichen Suppe einladen und so höflich zu ihnen sein, dachte er sich dann.

Der alte Dörfler schaute auf das ellenlange Beil und setzte fort:

Mein Sohn, ich kann deine Aufregung gut nachvollziehen. Kein Grund zur Sorge. Ich sagte ja bereits, ich benutze das Werkzeug, die den Attentätern in Brüssel und in Ankara ähneln.“

Eine Allegorie fürs Leben

Sinan verstand immer noch nicht, worauf der Mann hinaus wollte. Doch sein Puls legte sich wieder. Etwas erschien Sinan jedoch immer noch geheimnisvoll : Die Terroristen in Ankara hatten eine große Bombe explodieren lassen, und auch in Brüssel wird es nicht anders gewesen sein. Aber mit einem Beil? Wir sind doch nicht im Mittelalter. Der Mann müsste wohl ein Verrückter sein, fantasierte Sinan. Sodann ergriff der Dörfler wieder das Wort und riss ihn aus seinen Gedanken:

Das Beil besteht aus einer Schneide und aus einem Stiel. Eigentlich ist die Schneide das Teil, das das Holz spaltet. Doch ohne Stiel könntest du nichts mit der Schneide anfangen. Auch wenn du, wie ich, vom Wald umgeben bist, wird kein Holz von selbst in deinen Ofen fallen.“

Die Worte klangen schon wie eine Weisheit, ja wie ein Aphorismus. Sinan hörte gespannt zu. Der alte Mann setzte fort:

Hast du schon einmal überlegt, woraus Schneide und Stiel bestehen?“

Die Schneide ist aus Stahl und der Stiel aus Holz“, antwortete Sinan selbstsicher.

Aus Holz“, wiederholte der Mann und starrte noch tiefer das Werkzeug an. Sodann hob er sein Gesicht und schaute wieder Sinan an:

Und was spaltet das Beil? – Natürlich Holz. Und das auch noch mithilfe von Holz. Ich nehme es der Schneide nicht übel, wenn sie Holz spaltet. Aber das tut sie mithilfe eines Gegenstandes, das wieder aus Holz besteht. Nämlich dem Stiel. Ich benutze mein Werkzeug wenigstens für gute Zwecke.“

Sinan war von den Erläuterungen des alten Mannes fasziniert. Dieser setzte wieder an:

„Die Terroristen berufen sich auf die Lehren des Islams. Doch wofür benutzen sie ihren Glauben? Um wiederum ihm zu schaden. Sie zerschlagen viel Porzellan für nichts. Dem Ursprung, dem sie entstammen, wird durch solche Attentate der größte Schaden zugefügt. Ähnlich dem, dem der Stiel dem Holz zufügt.“

Der Mann hatte recht. „So habe ich die Sache noch nie betrachtet“, entgegnete Sinan dem Dörfler.

Im Namen Allahs richten sie den größten Schaden an der Botschaft Allahs an. Im Namen des Islams ziehen sie den Namen des Islams in den Dreck. In letzter Zeit denke ich sehr über diese Allegorie nach, wenn ich Holz spalte. Wenigstens dient mir der Stiel des Beils. Wem dienen die Terroristen?“

Sinan bedankte sich für die unvergessliche Lehre und die Suppe. Gemeinsam mit seiner Familie nahm er wieder seinen Platz im Auto ein und startete den Motor. Das Auto setzte sich in Bewegung. Sinan, seine Frau und seine beiden Kinder winkten dem alten Mann aus ihren offenen Fenstern zu. Er wiederum lächelte seinen Gästen zu und winkte zurück.


Foto: By Dirk BindmannOwn work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27553467