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Gesellschaft

„Rassismus muss sich nicht immer in Gewalt äußern“

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Der Verein KIgA e.V. aus Berlin-Kreuzberg will vor allem Antisemitismus innerhalb der muslimischen Einwanderergemeinde bekämpfen. Mit DTJ sprach Mitgründer Aycan Demirel über seine Arbeitsschwerpunkte. (Foto: dpa)

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Seit zwölf Jahren besteht in Berlin-Kreuzberg der Verein KIgA e.V., der es sich zur Aufgabe gemacht hat, antisemitischen Tendenzen innerhalb der muslimischen Gemeinde und dabei vor allem unter Jugendlichen entgegenzuwirken.

Die hasserfüllten Parolen am Rande von Solidaritätsdemonstrationen mit Gaza anlässlich der kriegerischen Eskalation des Konflikts mit Israel im Juni 2014 und eine Reihe antisemitischer Übergriffe haben verdeutlicht, dass in diesem Bereich noch Handlungsbedarf besteht.

Aycan Demirel ist Mitbegründer der Initiative und engagiert sich vor allem in der Bildungsarbeit. Seit August 2009 ist er Mitglied des unabhängigen Expertengremiums des Deutschen Bundestages zur Bekämpfung des Antisemitismus.

Im Interview mit DTJ spricht er über seine Tätigkeit.

Initiativen gegen Antisemitismus sind in Deutschland nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Der besonderen historischen Verantwortung wegen ist man diesbezüglich sehr aufmerksam. Aber die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, kurz KIgA, ist etwas Besonderes, weil dahinter viele türkeistämmige Menschen stecken. Und Sie sind mittendrin in diesen Aktivitäten. Wie kam es dazu?

Gegründet wurde diese Initiative vor etwa zwölf Jahren, genauer gesagt im Jahr 2003. Damals beobachteten wir eine Verbreitung antisemitischer Äußerungen in unserer Umgebung. Dazu kamen die terroristischen Angriffe auf die Synagogen in Istanbul durch al-Qaida. Als Menschen, die aus der Türkei stammen, schmerzte uns das sehr. Wir haben hier am Heinrichplatz in Kreuzberg eine Kundgebung veranstaltet. Die Reaktionen waren sehr positiv. Danach ging aus dieser Kundgebung diese Initiative, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus hervor. Heute arbeiten bei uns neben sechs fest angestellten Personen um  die 20 Mitarbeiter.

Wie dringlich ist dieses Problem des Antisemitismus?

Nach Untersuchungen sind 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung latent antisemitisch. Dies zeigt sich nicht in Handlungen, aber passiv in der Weltanschauung. Straftatstatistiken werden von der Polizei unter der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität“ erfasst, wobei auch antisemitische Straftaten gesondert aufgeführt werden. Gewaltdelikte kommen glücklicherweise selten vor. Bei diesen Gewaltdelikten handelt es sich um physische Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen. Laut Polizeistatistiken haben die antisemitischen Straftaten in weit überwiegender Zahl einen rechtsradikalen Hintergrund. Dies betrifft etwa 90 Prozent der Taten. Propagandadelikte machten den größten Anteil der Fälle aus. Bei den Gewaltdelikten überwiegen teilweise die der Kategorie „Ausländer“ zugerechneten Fälle gegenüber denjenigen mit rechtsradikalem Hintergrund.

Wie sieht es bei Muslimen aus?

Wie weit antisemitische Einstellungen unter Muslimen verbreitet sind, weiß man nicht, da bisher keine repräsentativen Studien vorliegen.  Es gibt aber eine Reihe von qualitativen Untersuchungen, die über die Beschaffenheit solcher Einstellungen Kenntnisse liefern und gewisse Vergleiche zwischen verschiedene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. So z.B. äußert sich der Antisemitismus  bei der autochthonen deutschen Bevölkerung thematisch anders als bei den Muslimen. Bei Herkunftsdeutschen handelt es sich primär um historische Bezüge. Man will vom Holocaust nichts mehr hören, streitet es ab oder relativiert es. Man hört Beschwerden wie, „Wie lange müssen wir dafür noch zahlen?“ Bei den Muslimen, vor allem bei arabischstämmigen, äußert er sich besonders in Verbindung mit dem Israel-Palästina-Konflikt.

Gibt es bestimmte Gründe, weshalb es zu antisemitischen Einstellungen kommt?

Es kommt vor allem auf das Milieu an, auf das soziale Umfeld, auf den Bildungshintergrund und/oder die Erfahrungen in dieser Gesellschaft, ob derjenige in dieser Gesellschaft Anerkennung oder Diskriminierung erlebt hat. Also die antisemitischen Einstellungen lassen sich nicht allein mit der Religionszugehörigkeit oder ethnischen Herkunft erklären. Zum Beispiel: Lebe ich in einem bestimmten Freundeskreis, in dem antisemitische Parolen fallen, schweige ich vielleicht beim ersten Mal, aber bei den nächsten Malen mache ich vielleicht mit, weil ich nicht als Außenseiter dastehen möchte. Da dies nicht nur ein Problem beispielsweise der Muslime ist, wäre es falsch, sie als ein Problem der Muslime zu betrachten. In diesem Fall würde das Problem zur Ausgrenzung einer Gruppe mit ohnehin schwierigem Stand führen – zudem würde man so den eigenen Antisemitismus verbergen.

Können denn Juden heute äußerlich sichtbar in Kreuzberg oder Neukölln auf den Straßen gehen, ohne belästigt zu werden?

Das kann ich nicht beurteilen. Es kann sein, es kann aber auch anders sein. Das Gleiche kann auch in anderen Bezirken genauso passieren. Ich jedenfalls freue mich, wenn ich Juden mit der Kippa sehe.

Wie sieht es mit den türkeistämmigen Menschen aus, können sie ohne Probleme in die Ost-Berliner Bezirke gehen? Nach den Statistiken der Berlin-Brandenburger Behörden beträgt die Rate der türkeistämmigen Menschen in Ost-Berliner Bezirken unter 5 Prozent – 25 Jahre nach Mauerfall…

So gesehen existiert die Mauer noch. Einwanderer vermeiden es, in ehemaligen Ostbezirken zu leben. Ausgrenzung hat viele Gesichter. Rassismus muss sich nicht unbedingt in Gewalt äußern. Auch ein Blick kann einen Menschen treffen.

Einwandererkinder gehen hier in deutsche Kindergärten und Schulen. Wie kommt es dazu, dass sie sich im Laufe der Jahre von ihren deutschen Altersgenossen trennen, verschiedene Wege gehen? Wann beginnt das?

Ich spreche mal von einem konkreten Beispiel: Manche Kinder in meiner Verwandtschaft wurden ohne jegliche Beeinflussung in Richtung Nationalität oder Religion erzogen. Die religiöse Haltung von Vater und Mutter, die beide in Deutschland geboren sind, kann man mit Atheismus umschreiben. So haben sie ihre Kinder ohne Religion großgezogen. Als ihre Oma von der Pilgerfahrt kam und dies in der Moschee gefeiert wurde, waren sie auch da, konnten aber keine Gebete und fühlten sich dort nicht sonderlich wohl. Aber mit 12-13 Jahren begannen sie, sich für Türken zu halten. Mit 19-20 Jahren begannen sie, sich als Muslime zu bezeichnen. Ich denke, dass es hier nicht um das Bedürfnis nach Glauben geht, sondern um Suche nach einer Ersatzidentität wegen der verweigerten Zugehörigkeit zur deutschen Identität. Die deutschen Zustände bringen diese jungen Leute dazu, sich auf die Herkunftsmerkmale zurückzubesinnen.

Heißt das also, es gibt immer noch erhebliche Probleme bei der Akzeptanz?

Leider ja, aber man sieht auch positive Signale. Dafür steht die Mahnwache am 13. Januar am Brandenburger Tor, wo die Staatsspitze mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Joachim Gauck sowie fast die ganze Regierung und alle gesellschaftlichen Akteure von Bedeutung teilnahmen. Es war ein historischer Moment. Da hat dieses Land seine muslimischen Bürger umarmt. Ich selbst bin kein „Rassismus muss sich nicht immer in Gewalt äußern“ religiöser Mensch. Aber als ich den Koran am Brandenburger Tor hörte, hat mich das emotional berührt. Es war für mich das Zeichen für die Akzeptanz durch dieses Land. Vielleicht dauert es noch, bis es in die Bevölkerung durchsickert. Aber ich bin optimistisch.