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Politik

Appell eines ehemaligen AKP-Abgeordneten: „Ist es das wert?“

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In seiner aktuellen Kolumne richtet der ehemalige AKP-Abgeordnete und Politikwisschenschaftler Suat Kınıklıoğlu einen eindringlichen Appell an seine Ex-Kollegen, der willkürlichen Politik Erdoğans und der AKP nicht länger tatenlos zuzusehen.

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Suat Kınıklıoğlu
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Auch Du weißt, dass es bergab geht, aber Du findest immer wieder Gründe, die dich daran hindern, es einzusehen. Nicht wahr?

Ich frage meine alten AKP-Freunde: Ist es das wert?

Ist es das wert, sich mit denen gemein zu machen, die für dieses Schlechte, diese Unterdrückung und diese Unvernunft verantwortlich sind?

Die Gezi-Proteste haben sie Euch als Aufstand der Aleviten präsentiert. Von der Zinslobby bis hin zu fremden Mächten haben sie Euch mit Verschwörungstheorien beruhigt. Die offenkundigen Korruptionsvorwürfe haben sie Euch als Putschversuch verkauft. Auch das habt Ihr akzeptiert. Bei den Kommunalwahlen wurden in unglaublichem Ausmaß Staats- und Regierungsmittel zur Beeinflussung der Wahlen genutzt. Das ging bei Euch noch gerade so durch. Als Erdoğan dann zum Präsidenten gewählt wurde, hattet Ihr Hoffnung auf ein Ende der schlechten Zeiten. Aber Ihr habt nicht verstanden, dass das Land nach all den Ereignissen nicht mehr auf Knopfdruck zur Ruhe kommen konnte.

Als sich das Volk in Ankara für Mansur Yavaş entschieden hat, habt Ihr keinen Einspruch erhoben, als um Mitternacht Wählerstimmen geraubt wurden. Und als manche von Euch sogar prahlerisch davon erzählten, wie der Stimmenklau organisiert wurde, habt Ihr versucht Euch weiszumachen, dass dies notwendig war. Auch nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni habt Ihr die deutliche Botschaft des Volkes abgelehnt und Euch ein Theaterstück über das Nichtzustandekommen einer Koalition angesehen. Und auch als schließlich aus Gründen, die keiner verstanden hat und die bis jetzt keiner kennt, am 8. Juni plötzlich wieder die Gewalt ausbrach, habt ihr nicht Eure Stimmen erhoben, sondern hinter mit Rassismus gefülltem Nationalismus und Etatismus versteckt.

Warum das Ganze?

Um bei den kommenden Wahlen Abgeordneter zu werden? In den Parteivorstand beordert zu werden? Oder etwa eine Beförderung zum Minister oder stellvertretenden Vorsitzenden zu bekommen? Warum? Oder etwa um die notwendige Unterschrift für Deine Dokumente zu erhalten, die schon seit Längerem im Ministerium liegen?

Während Ihr all diese Entwicklungen lediglich betrachtet habt, sind Hunderte Menschen in ihren besten Lebensjahren von uns gegangen. Sie alle hatten Träume, Kinder, Ehefrauen, Mütter und Väter. Die Gesellschaft ist nun dermaßen außer sich, dass in den Städten kurdische Arbeiter gelyncht werden. Die offensichtlichen Fehler während der Terrorbekämpfung haben den Gewaltpegel so extrem in die Höhe schießen lassen, dass Ihr einen ganzen Landkreis für neun Tage in die Häuser verbannt habt. Ihr habt dieses Land zu einem Ort gemacht, in dem Scharfschützen Aussicht nach Menschen halten.

Und wofür das Ganze? Hast du Dich das Mal gefragt, ehemaliger/neuer Abgeordneter oder Parteifreund? Ist es wirklich für den Islam oder die Umma, wie es Dir erzählt wird? Oder geht es nicht doch um was anderes? Den Parteikongress habe ich mit großem Interesse verfolgt. Das ganze Land hat gesehen, dass Euer Parteivorsitzender die Danksagung an leere Tribünen gehalten hat. Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig.

Möglicherweise wartest du grade auf die Gelegenheit, Deine Kandidatur am 18. September zu erklären.

Aber auch Du weißt, dass es bergab geht, aber Du findest immer wieder Gründe, die Dich daran hindern, es einzusehen, nicht wahr? Man gibt Dir immer wieder Gründe, Dein Gewissen bei all dem angerichteten Leid zu beruhigen. Ist es nicht so, mein verehrter Freund? Während Du bis zum Morgengrauen versuchst, Gesetze durchs Parlament zu bringen, verfolgen andere eine ganz andere Tagesordnung. Entweder Du weißt nichts davon oder Du willst es nicht wissen.

Eigentlich weißt Du es. Dass die Verfassung aufgehoben wurde, Rechtsstaatlichkeit missachtet wird und wie Presse, Geschäftsleute, Zivilorganisationen und potentielle Oppositionelle schikaniert werden und die Wirtschaft all dem nicht mehr lange standhalten kann. Oder, dass die Polarisierung und der Hass in der Gesellschaft schon längst die Grenzen des Erträglichen überschritten haben.

Wenn wir in vertraulicher Umgebung miteinander sprechen, erklärst Du sehr wohl, dass Du all diese Dinge siehst und sie nicht befürwortest. Aufgrund Deines Umfelds, Deiner Freunde und Deines Viertels bist Du aber eingeschüchtert. Du hast Angst.

Aber der Tag wird kommen, an dem Dich Deine Kinder fragen werden, was Du getan hast, als der Stern unseres Landes Tag für Tag weiter gesunken ist.

Das ist es nicht wert.