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Gesellschaft

Arbeitssuche in Istanbul: Das Snickers-Telefon ist schuld

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Es ist ein Samstagnachmittag, das Telefon klingelt. „Hier Dein Snickers“, sagt mein Freund und reicht mir das Telefon. Ich hatte es so getauft, weil es ein altes LG-Telefon der letzten Dekade ist, so groß wie ein Snickersriegel halt. Dafür kein Schnickschnack wie Internet, Kamera, Spiele und tausend Apps. Sehr gut, so kann man sich auf das konzentrieren, was man macht. Zeit ist hier sehr wichtig geworden. Die haben viele in Istanbul nicht mehr. Dennoch sind sie allzeit erreichbar, selbst nach 21 Uhr, wenn der Chef anruft.

Als ich abnehme, meldet sich Ercan, ein Freund eines Freundes. Er arbeitet für ein Sprachinstitut und hatte mitbekommen, dass ich hier in Istanbul eine Arbeit suche.

Dabei war ich für vieles nicht sehr offen. „Etwas mit Sprachen, Kultur, Kunst. Was soll man sonst mit einem Philosophieabschluss machen? Schön auf dem Teppich bleiben also“, dachte ich mir.

Ich war mit meinen Erwartungen sehr bescheiden. Ich war ja vorgewarnt.

„Die Leute denken sonst, du würdest zu hohe Ansprüche haben. Am besten, Du bewirbst dich bei ausländischen, bei deutschen Unternehmen beispielsweise. Da hast Du sicherlich gute Chancen.“

Immerhin spreche ich vier Fremdsprachen, habe im Ausland gelebt und so einiges studiert. Sollte also was drin sein.

Eine halbe Stunde später treffe ich Ercan im Supermarkt um die Ecke. Er hatte Pause und bot mir an, mich dorthin zu bringen. Es war ja nicht weit weg. Als ich Ercan auf dem Weg zum Institut frage, wie die Arbeitszeiten sind, der Lohn, und wie die Bezahlung erfolgt, erklärt er: „Also du bekommst 3000 Lira (knapp über 800 Euro, Anm. d. Red.), wobei 1500 Lira der ‚Lohn‘ sind und 1500 Lira Prämie anfallen – bei guter Leistung.“ Aha, das war das Zauberwort „iyi performans“, das ich bereits öfter gehört hatte.

„Arbeitszeiten sind in Schichten, also von 9-18 Uhr, 10-19 Uhr, 11-20 Uhr oder von 12-21 Uhr. Gearbeitet wird vor allem am Wochenende, so dass freie Tage nur innerhalb der Woche möglich sind“, erklärt er weiter.

Mir kam das seltsam vor. Ich war davon ausgegangen, als Sprachlehrer zu arbeiten. Soweit ich weiß, arbeiten Sprachlehrer in der Regel keine acht Stunden am Tag, und schon gar nicht fünfmal die Woche. Daher möchte ich mich vergewissern und frage nochmal nach. „Bei dem Job geht es darum, Sprachpakete des Instituts zu verkaufen: Kundenbetreuung, telefonische Beratung, flexible Arbeitszeiten mit Zusatzleistungen bei guten Verkaufsquoten. Die sind besonders am Wochenende hoch, als Tipp“, heißt es.

Im Klartext also Outbound, Prämie bei Akkordarbeit, Wochenendschichten ohne Zulage und so weiter. Hinzu kommt, dass sich der Arbeitsplatz am Empfang befindet. Durchlaufstation für alle Mitarbeiter, den Chef sowie für Kunden und Sprachschüler, die in den oberen Etagen des Hauses Unterricht von den Lehrern am Institut erhalten. Das hieße, man würde zusätzlich die Info-Beratungsstelle oder Sekretariatsaufgaben erledigen. Es kommt mir alles ein wenig seltsam vor.

Ich gehe dennoch mit. Ich war neugierig auf die Arbeitsverhältnisse hier und wollte mir ein eigenes Bild machen. Immerhin hatten mir viele Freunde berichtet, wie schlecht die Arbeitskonditionen, besonders nach dem Putschversuch geworden seien.

Nachdem ich mich über den genauen Arbeitsabläufe informiere, bin ich im Bilde:

Man hat keine freie Zeiteinteilung. Hinzu kommt, dass man nicht einmal weiß, ob man zwei Tage hintereinander frei bekommt, ob die Arbeitszeiten von Woche zu Woche variieren. Der Stundenplan wird nämlich wöchentlich von den Vorgesetzten erstellt, ohne Rücksprache mit den Mitarbeitern. Dabei kann es sein, dass man am Vortag um 21 Uhr die Arbeit verlässt und am nächsten Tag schon um 9 Uhr wieder auf Arbeit sein muss. Auch wenn man seine Präferenz-Arbeitszeiten angeben könne, am Ende bestimmt der Chef, so Ercan. Auch ob man pünktlich gehen kann oder kurzfristig einspringen muss, weil ein anderer Mitarbeiter nicht kommen konnte.

„Du gehst, wenn der Chef dich freistellt, was unter Umständen 10 Stunden am Tag bedeuten kann. Du hast auch dann zu arbeiten, obwohl Du eigentlich frei hättest, wenn der Chef Dich braucht. Es kann dabei sein, dass er Dich morgens aus dem Bett klingelt und Dich um 10 Uhr ins Büro ruft oder auch den Tag davor gegen Mitternacht eine kurze Whatsapp-Nachricht schreibt. Ohne Fragezeichen, sondern als ‚Bestellung'“, berichtet mir dann später ein Freund, als ich ihm von dem Vorstellungsgespräch und den Arbeitskonditionen erzähle.

Solche Arbeitsbedingungen haben aber auch andere Nebeneffekte.

Dadurch, dass man sich also theoretisch den Tag von 9-21 Uhr freihalten muss, kann man keine Termine beim Arzt ohne Absprache mit dem Arbeitgeber vereinbaren. Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass es auf dem Arbeitsmarkt nicht rosig ausschaut, nicht sehr vorteilhaft. Der Arbeitgeber hakt da unter Umständen genauer nach, ob man denn krank sei oder anderweitige gesundheitliche Probleme habe.

Ein weiterer Nachteil ist, wenn man Kinder hat. Die müssten von der Schule abgeholt und gegebenenfalls auch zum Arzt oder zum Sport, zum Musik- oder zum Nachhilfeunterricht gebracht werden. Hat der Partner auch in Schichten oder in Vollzeit zu arbeiten, dann ist die Schwiegermutter gefragt oder Solidarität unter Nachbarn und Freunden.

Schließlich ist da die Prämie von 1500 Lira, bei der nicht sicher ist, ob man sie am Monatsende erhält. Das richtet sich nach der Quote, die man erfüllt hat oder nicht. „Performansınıza bağlı“, also leistungsabhängige Bezahlung. Keine Transparenz, wonach sich die Messlatte richtet. Denn die variiert angeblich von Monat zu Monat und ist marktabhängig, wird mir erklärt, als ich nachhake. Im Klartext auch hier: Man weiß am Ende des Monats nicht, ob das Geld reichen wird. Man muss also nicht nur arbeiten, sondern Fließbandarbeit leisten und dabei zeigen, dass man motiviert ist. Und das, obwohl man 40 Stunden die Woche arbeitet. Pausen könne man sich einteilen, wie man möchte. Aber schon als ich das Institut betrat, war mir klar, dass sich die wenigsten dort trauen, eine Stunde am Stück auswärts zu verbringen. Als ich ankam, saßen die „Sprachpaketler“ am Empfang mit ihren Broten und Tee am Tisch und tippten nebenbei weiterhin in die Tasten. Oder vielmehr umgekehrt: Sie arbeiteten in den Pausenzeiten weiter und aßen nebenbei.

„Das sind also die Verhältnisse“, dachte ich mir.

Ich frage mich, was das Unternehmen als Gegenleistung bietet. Denn nicht mal Fahrtgeld oder Essensgeld ist drin. Solche Verhältnisse kann man sich als Student sicherlich leisten, indem man sich in den Ferien etwas dazuverdient, wie Ercan. Aber als Akademiker mit guter Bildung und Arbeitserfahrung? Nachdem man eine „iyi performans“ täglich abliefern und dabei wie am Fließband arbeiten muss, um überhaupt 3000 Lira in der Tasche zu haben, glaube ich nicht, dass man am Ende des Tages noch die Puste haben wird, um nach anderen Jobs Ausschau zu halten. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten, gekoppelt mit ständigem Druck, gute Leistung erbringen zu müssen, wobei man an der Rezeption jeglicher Form von Kommunikation und Kundenkontakt rund um die Uhr ausgesetzt ist, erzeugen irgendwann Gleichgültigkeit und Akzeptanz solcher Arbeitsverhältnisse sowie Zeitmangel, diese zu hinterfragen.

Das ist nicht gut.

Auch wenn solche Jobs zuhauf angeboten werden, sind sie sicherlich nicht der Regelfall. Dennoch ist es sehr fraglich, ob solche Angebote rechtens sind. Eine Gewerkschaft, die sich in solchen Fällen einschaltet, sucht man vergebens. Es gibt zwar den „asgari maaş“, also den Mindestlohn, der bei 1400 Lira liegt, aber keiner definiert dabei die Obergrenze von 40 Stunden die Woche. Oft müssen die Leute länger arbeiten. Ist man in einem Kiosk beschäftigt oder im Familienbetrieb, wo man auch mal Freunde einladen kann oder sich abwechselt, wenn Termine beim Arzt oder sonstiges anstehen, dann sind derart lange Arbeitszeiten sicherlich kein Problem. Aber in solchen Bereichen ist es schlichtweg Ausbeute.

Selbst Lehrer, die an solchen Sprachinstituten Gruppenunterricht (bis zu 10 Personen) geben, verdienen 15 bis 25 Lira (4 bis 6,80 Euro) pro Stunde – nicht pro Kursteilnehmer. Wenn man von 20 Lira durchschnittlich und 5 Stunden /5 mal pro Woche ausgeht (denn mehr kann man als Lehrer am Tag nicht machen), macht das immer noch 2000 Lira (545 Euro) im Monat, was dann doch recht wenig ist. Denn, um in Istanbul halbwegs gut zu leben, braucht man mindestens 3000 Lira.

Dennoch erliegen Bewerber den Arbeitskonditionen regelrecht. Denn viele können es sich nicht aussuchen. Sie sind auf das Geld angewiesen, haben Schulden, die so schnell wie möglich beglichen werden müssen, oder eine Familie, die ernährt werden möchte, aber: Auf lange Sicht gesehen tragen genau solche Menschen, die solche Jobs machen, dazu bei, das eine „Motivationsgesellschaft“ entsteht, die allseits einsetzbar, allzeit bereit, allzeit erreichbar, allzeit lächelnd arbeitet. Dass solche Firmen genau diese Situationen ausnutzen und ein stabiles Gerüst für systematische Ausbeutung schaffen, ist ein wechselseitiges Ergebnis, und kein einseitiges.

Es fängt schon damit an, dass man dauerhaft erreichbar ist. Im Bewerbungsgespräch wurde ich dann gefragt, ob ich ein Smartphone hätte, da die Arbeitseinsatzzeiten per Nachricht , also per Whatsapp mitgeteilt werden würden – sollte ich eingestellt werden.

Ich musste passen. Ich habe mein Snickers-Telefon herausgeholt.

Die Tatsache, dass das „Snickers“ nur Grundfunktionen besitzt, bedeutet für dieses Unternehmen einen Kosten- und Zeitaufwand. Für meinen Gesprächspartner war damit klar, dass ich für den Job nicht in Frage komme.

Aber auch ich wusste, dass ich diesen Job nicht annehmen werde. Nicht weil ich mir zu schade bin, sondern weil ich in meinem eigenen Handeln eine soziale Verantwortung sehe, sei es in Istanbul oder in Berlin oder sonstwo auf der Welt. Ich denke, wenn es solche unterbezahlten Jobs mit einer hohen Erwartungshaltung seitens des Arbeitgebers gibt, dann nur, weil die Arbeitnehmer solche Bedingungen akzeptieren (müssen).

Na ja, wenigstens wären bei dem Job die Sozialabgaben gedeckt und man bekäme Kaffee und Tee gratis. Und eine Snackmaschine für echte Snickers gab es auch.