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Gesellschaft

„Armenier haben das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen“

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Vor 100 Jahren begannen die Gräueltaten an den Armeniern. Das Deutsche Kaiserreich war an der „Großen Tragödie“ beteiligt. Auch heute haben es die Armenier nicht einfach in der Türkei. Und sie sehen  Deutschland in der Verantwortung.

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Nur selten ist die St.-Giragos-Kirche in Diyarbakır so voll wie auf dem Bild: Die Lage der Armenier in der Türkei ist auch heute noch kompliziert.
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Kaum einer seiner Ahnen hat die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich überlebt. Gafur Türkays Großvater gehörte vor 100 Jahren zu den wenigen Glücklichen. Der Enkel ist heute 50 Jahre alt, er sitzt im Hof der St.-Giragos-Kirche (Surp Giragos) in der südosttürkischen Metropole Diyarbakır in der Frühlingssonne. Auf die Frage, wie das Leben der Nachfahren heute in der Türkei ist, antwortet er: „Wenn der Begriff „Armenier“ immer noch als Beleidigung verwendet wird, können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist.“

Türkay spielt auf Recep Tayyip Erdoğan an. Der Staatspräsident sagte vor seiner Wahl in das Amt im August, obwohl er Türke sei, habe man ihn schon viel geschimpft, einen Georgier zum Beispiel oder noch „hässlichere Dinge“: nämlich einen Armenier.

Türkay hegt kaum verhohlenen Groll – auch gegen Deutschland. Der 50-Jährige ist im Vorstand der St.-Giragos-Kirchenstiftung. Das größte armenische Gotteshaus im Nahen Osten war eine Ruine, bis Ende 2010 der Wiederaufbau begann. Finanziert haben ihn vor allem Armenier, die in der Türkei und zerstreut in der Welt in der Diaspora leben.

Seit zwei Jahren erstrahlt die St.-Giragos-Kirche, die deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg als Kaserne missbrauchten, in neuem Glanz. Gottesdienste gibt es trotzdem kaum. Die Gemeinde in Diyarbakır zählt nur eine Handvoll Gläubige. Zu den höchsten Festen fliegt ein Priester aus Istanbul ein, wo schätzungsweise 60.000 Armenier die heute größte Gemeinschaft in der Türkei stellen.

Nur „Kinder, hübsche Mädchen und Handwerksmeister“ überlebten

Diyarbakır war bis zu den Vertreibungen im Ersten Weltkrieg eine Hochburg der Armenier. „Anfang des 20. Jahrhunderts waren 60 Prozent der Bevölkerung Christen“, sagt Türkay. „Drei Gruppen haben den Völkermord überlebt: Kinder, hübsche Mädchen und Handwerksmeister.“ Sein Großvater gehörte zur ersten Gruppe. Fast alle der Überlebenden konvertierten zum Islam – weil sie dazu gezwungen wurden oder weil sie sich Schutz davon erhofften.

Der Großvater wurde vermutlich von einer kurdischen Familie als Muslim aufgezogen, Türkays Vater pilgerte sogar nach Mekka. Auch Türkay wuchs als Muslim auf, wusste allerdings nach seinen Worten schon als Kind um seine armenische Herkunft. Vor fünf Jahren kehrte er zu seinen Wurzeln zurück – und ließ sich taufen.

Immer mehr armenische Türken besinnen sich ihrer Herkunft. Nur wenige haben aber den Mut, dem islamischen Glauben den Rücken zu kehren. „Manche schämen sich“, sagt Türkay. „Sie sind als Muslime aufgewachsen.“

Armenier in der Türkei: „Wenn es nicht nötig ist, sagen wir es nicht.“

Im Jahr 2004 bekannte sich in Diyarbakır ein einziges Ehepaar offen dazu, armenisch zu sein. Heute sind es nach Schätzungen von Abdullah Demirbaş, der bis vor kurzem Bürgermeister der Altstadt Diyarbakırs war, 300 bis 400 Menschen. Die meisten davon sind Muslime geblieben. Die tatsächliche Zahl der Menschen mit armenischen Wurzeln dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Ergün Ayık, der in Istanbul lebende Vorsitzende der Kirchenstiftung, sagt, nur 10 bis 20 dieser bekennenden Armenier in Diyarbakır hätten sich taufen lassen. Zwar habe der Wiederaufbau der St.-Giragos-Kirche dafür gesorgt, dass sich Menschen ihrer armenischen Herkunft besinnen würden. „Aber viele bleiben Muslime. Sie haben Familie, sie haben ein Leben. Es ist sehr schwierig für sie.“ Armenier in der Türkei seien bis heute vorsichtig, Mitbürgern ihre Herkunft zu offenbaren. „Wenn es nicht nötig ist, sagen wir es nicht.“

Demirbaş – der bei der Parlamentswahl im Juni für die pro-kurdische Partei HDP kandidiert – hat als Bürgermeister den Wiederaufbau der Surp-Giragos-Kirche unterstützt. Sein Engagement für die Armenier und andere Minderheiten hat ihm viel Ärger mit dem türkischen Staat eingebracht. „Für mich war das ein Genozid und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt Demirbaş. „Ich habe mich persönlich dafür entschuldigt.“

Deutschland verantwortlich„für jeden Tropfen armenischen Blutes“

„Die Deutschen tragen Verantwortung für jeden Tropfen armenischen Blutes“, meint Türkay. „Aus meiner Sicht haben die Armenier das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen. Hätten sie das Osmanische Reich nicht unterstützt, wäre das alles nicht passiert.“ Ayık, der Vorsitzende des Kirchenstiftung, formuliert das etwas diplomatischer. Ihm sei gar nicht so wichtig, ob die Bundesregierung die Massaker an seinem Volk als Völkermord anerkenne oder nicht, sagt er. „Eine Entschuldigung wäre genug“.

Der Berliner „Tagesspiegel“ hatte am Mittwoch berichtet, im Bundestag gebe es Streit über die Anerkennung der Gräueltaten als „Völkermord“. In einem gemeinsamen Antragsentwurf von Union und SPD, der am 24. April im Bundestag beraten werden soll, sei auf Druck der Fraktionsspitzen sowie des Auswärtigen Amts das Wort „Völkermord“ in der Überschrift gestrichen worden. Grüne und Linke sprächen sich dafür aus, die Gräueltaten als Völkermord zu benennen.

Das Thema belastet seit Jahrzehnten das türkisch-armenische Verhältnis. In den letzten Jahren gab es ernstzunehmende Anzeichen von Versöhnung. Damals hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan, zu dem Zeitpunkt noch als Premierminister, erstmals offiziell Anteilnahme mit dem Schicksal der betroffenen Armenier geäußert und dafür auf internationaler Ebene Anerkennung geerntet. Der armenische Präsident lud Erdoğan jüngst zu einer gemeinsamen Gedenkfeier ein, die am 24. April stattfinden soll.

Erdoğan und die Armenier-Frage: Auf Annäherung folgt harte Wahlkampf-Rhetorik

Doch im März 2015 schlug Erdoğan bei der Armenier-Frage erneut harte Töne an: Während seiner Eröffnungsansprache zu einer Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Osmanischen Archiv Istanbul forderte er die armenische Diaspora auf, „Dokumente“ vorzulegen, die es ermöglichen würden, das hartnäckige politische Streitthema zwischen der Türkei und Armenien rund um die massenweisen Tötungen osmanischer Armenier vor 100 Jahren einer Beilegung zuzuführen. „Die armenische Diaspora versucht immer noch, in aller Welt durch Kampagnen unter dem Genozidvorwurf Hass gegen die Türkei zu schüren“, so Erdoğan damals.

HINTERGRUND Die Ereignisse von 1915 sind äußerst umstritten. Armenien zufolge sind damals bis zu 1,5 Millionen osmanische Armenier in einem „Genozid“ getötet worden. Am 24. April begeht Jerewan den 100. Jahrestag der„großen Tragödie“. Die Türkei bestreitet, dass ein Genozid die Ursache für die vielen Toten gewesen sei. Die Anzahl der Opfer sei zu hoch angesetzt und diese seien Opfer kriegsbedingter Unruhen während des Ersten Weltkriegs gewesen. Neben den Armeniern wurden bei den Ereignissen auch andere religiöse Minderheiten massiv verfolgt, so etwa die Gemeinschaft der assyrischen Christen.

Zahlreiche Parlamente sowie Länder wie Frankreich und die Schweiz, aber auch internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord. Das Deutsche Kaiserreich wusste nachweislich von den Massakern, unternahm aber nichts, um sie zu stoppen. Der Autor und Journalist Jürgen Gottschlich hatte Deutschland kürzlich „Beihilfe zum Völkermord“ in einem gleichnamigen Buch zum Thema vorgeworfen. (dpa/dtj)