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Geschichte

Armenierfrage: Wir brauchen keine Historiker-Kommission

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Der 24. April bedeutet für viele Türken und Armenier Stress. Er konfrontiert sie mit der Frage, was mit den Armeniern in Anatolien während des Ersten Weltkriegs passiert ist. Beide Seiten scheinen sich in der Frage der Bezeichnung verrannt zu haben. Einen Ausweg gäbe es aber.

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Wäre der Historiker İlber Ortaylı auch international so anerkannt und bewundert wie in der Türkei, hätten die Türken dem April eines jeden Jahres noch entspannter entgegenblicken können. Ortaylı, der 16 Sprachen beherrscht, in der Türkei durch seine Bücher und Fernsehauftritte bekannt ist und für die einen nur so vor Selbstvertrauen strotzt, für die anderen ein wenig arrogant daherkommt, war vergangene Woche zu einer Konferenz des Vereins „Üç beş kişi“ in München eingeladen. Dabei wurde er auch zum angeblichen Völkermord an den Armeniern befragt.

Er gab die Antwort, die die Anwesenden hören wollten. Für Ortaylı erfüllen die Ereignisse rund um die Armenier im Ersten Weltkrieg nicht den Tatbestand eines Völkermordes. Gewiss, sie waren „überhaupt nichts Nettes“, in Wahrheit habe es sich dabei aber um ein gegenseitiges Abschlachten beider Völker gehandelt. „Zu diesen Ereignissen kam es in der Atmosphäre des Ersten Weltkrieges. Dass sich daraus systematische Deportationen und Massaker entwickelten, dazu hat übrigens auch der damalige deutsche Generalstab erheblich beigetragen“, stellte er fest.

Geheime Motivation der Deutschen

Auch auf die Frage, warum die Deutschen dieses Thema so hartnäckig verfolgen, hatte Ortaylı eine Antwort parat. Für den Historiker liegt die Ursache im Holocaust, dem Völkermord an den Juden, der seit jeher als schwere Schuld auf Deutschland lastet. Die Juden würden darauf beharren, dass der Holocaust ein Ereignis „sui generis“, etwas Einmaliges darstellt. Das Beharren Deutschlands auf den Völkermord an den Armeniern sei eine „große Kampagne“, um den Holocaust zu relativieren.

Ortaylı meinte: „Für die Deutschen ist der Holocaust eine riesengroße Scham, eine große Beklemmnis. Sie sehen, dass die Sache nicht erledigt ist, indem man es akzeptiert oder hier und dort Mahnmale errichtet. Ein lateinisches Sprichwort besagt, wenn alle schuldig sind, dann ist niemand schuldig. Also versuchen sie, auch im Handeln anderer diese Schuld des Völkermords zu erkennen, um ihre eigene Schuld zu erleichtern.“ Auch andere Nationen, die sich eines Völkermordes schuldig gemacht haben, wie Frankreich, würden auf dieser Frage beharren.

Was die Motive der Öffentlichkeit in der Völkermord-Frage an den Armeniern auch sein mögen – der Monat April, besonders der 24. April, ist für sehr viele Türken kein guter Tag. Hätten sie die Möglichkeit, dieses Datum aus dem Kalender zu streichen, würden sie es tun. Am 24. April 1915, also mitten im Ersten Weltkrieg, wurden in Istanbul zwischen 200 und 400 Armenier der dortigen Oberschicht festgenommen und deportiert. Dieses Datum wird als der Auftakt zum Völkermord angesehen. Die Armenier beklagen eine bis anderthalb Millionen Tote, die türkische Seite redet von höchstes 300.000.

Jahr für Jahr, wenn es auf den April zugeht, kommt diese Frage hoch. Die Armenier und die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern beklagen den Völkermord und beschuldigen die Türkei, ihn nicht zu akzeptieren und ihre historische Schuld zu leugnen. Die Türken wiederum versuchen die Sichtweise auf das Thema zurechtzurücken. Die offizielle Türkei vertrat bislang den Standpunkt, dass sich beide Seiten Schuld aufgeladen hätten. Außerdem sollte eine Historiker-Kommission eingesetzt werden und diese die historische Wahrheit ans Tageslicht bringen. Die Menschen auf der Straße dagegen versuchen, ihre Vorfahren von einer so schweren Schuld wie einem Völkermord rein zu halten.

Eine Szene erschien mir symptomatisch dafür, wie die einfachen Türken mit dem Problem umgehen. Im vergangenen Jahr fand in der Berliner Urania ein Streitgespräch zwischen einem türkischem Historiker und einem Vertreter der armenischen Gemeinde statt. Als der Begriff Völkermord in Bezug auf die Armenier fiel, sprang eine Türkin auf und protestierte gegen diesen Begriff. Sie könne nicht ertragen und akzeptieren, sagte sie mit erregter Stimme, dass das Andenken ihrer Vorfahren mit einer so schweren Schuld beschmutzt werde. Aber auch auf der anderen Seite regte sich Unmut und Betroffenheit. Eine Frau, die sich als Griechin vorstellte, beklagte das Völkermord an den kleinasiatischen Griechen nach dem Ersten Weltkrieg und berichtete darüber ebenso erregt.

Wie über Schuld geredet werden könnte

Offensichtlich hat man sich in einer Sackgasse verrannt. Die von der türkischen Regierung vorgeschlagene Historiker-Kommission scheint nicht die Antwort zu sein auf die Fragen von heute. Egal, welche neue Erkenntnis eine Historiker-Kommission auch ans Tageslicht bringen sollte, die Frage des Völkermords ist für beide Seiten zu einer Glaubensfrage geworden und emotional hoch aufgeladen. Passt eine Erkenntnis nicht ins Konzept, fällt ihre Akzeptanz umso schwerer.

Statt einer Historiker-Kommission bedarf es heute vielmehr einer Kommission von Psychologen. Psychologen, die beleuchten, warum beide Seiten so reagieren wie sie reagieren. Ohne die Beleuchtung dieser Fragen würden neue Erkenntnisse der Historiker nicht viel bringen. Vermutlich würde es ein riesengroßer erster Schritt sein, zu akzeptieren, dass auch das eigene Volk Fehler machen kann und sich Schuld aufgeladen haben könnte, wie eben jedes Volk oder jede Person. Eins steht jedenfalls fest: Es gibt Rede- und Aufklärungsbedarf, beide Seiten finden aber keine gemeinsame Grundlage. Ein Reden über die Schuld ohne die Verwendung des Begriffs „Völkermord“ könnte einen Anfang ermöglichen.