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Kolumnen

Beim Nachbarn: Frankreich lebt mit geborgter Zeit

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Frankreich wird gemeinhin als der Schicksalspartner Deutschlands angesehen. Vom Funktionieren dieses Tandems, so die weithin geteilte Annahme, hänge die Zukunft Europas ab. Die vor gut 50 Jahren propagierte Freundschaft zwischen de Gaulle und Adenauer nach konfliktreichen Jahrhunderten, die Schlüsselrolle der beiden Länder in der Europäischen Union bildeten somit gewissermaßen das Leitmotiv für eine persönliche Tour de France, auf die ich mich Anfang August auf den Weg machte. Nach 5 000 Kilometern Fahrt von Calais bis zum Rand der Pyrenäen südlich von Perpignan, nach dem Wiedersehen mit Freunden aus meiner Studienzeit und vielen Zufallsbegegnungen haben sich im Laufe dieser Wochen Muster herausgeschält, von denen ich Einige ich skizzenhaft beschreiben möchte.

Das Nachbarland lebt mit geborgter Zeit. Die krisenhafte Situation Frankreichs mit schwächelnder Wirtschaftsleistung, hoher Jugendarbeitslosigkeit, unzureichender Wochenarbeitszeit (offiziell 35 Stunden!), enormen Sozialtransfers, ist den allermeisten Menschen bekannt, aber da sich die verantwortlichen Gruppen blockieren, passiert nichts. Niemand ist mit dem handelnden politischen Personal zufrieden, niemand glaubt daran, dass sich nach den nächsten Präsidentschaftswahlen an diesem Zustand etwas ändern wird. Diejenigen Franzosen, die es sich leisten können- und es gibt viele davon – ziehen sich ins Private zurück. Die Eigenheimquote in Frankreich ist viel höher als in Deutschland, auch bei der städtischen Bevölkerung. Und da das flächenmäßig deutlich größere Land als die Bundesrepublik lange Küsten besitzt, die sich auf Autobahnen und vierspurigen Nationalstraßen – Deutschland war hier einmal führend in Europa! – leicht erreichen lassen, haben auch viele Franzosen einen Feriensitz. Während der Sommermonate wechseln sich die Mitglieder der Familie bei der Nutzung ab. Zwar sind die Scheidungsquoten in Frankreich ähnlich hoch wie in Deutschland, aber anders als hierzulande existiert in Frankreich weiterhin die Großfamilie. Sie gibt der Gesellschaft einen nicht zu unterschätzenden Halt oder einfacher gesagt: Man ist im Nachbarland weniger oft allein als in Deutschland. Wenn der Ehepartner abhanden gekommen ist, gibt es die Schwester oder den Bruder mit seiner Familie, der Franzose ist in der Gruppe unterwegs.

In dem Nachbarland, das mit seiner zentralistischen Struktur ganz anders funktioniert als die föderale Bundesrepublik, verstehen es die Menschen zu leben. Natürlich gibt es eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Arm und Reich, die offenkundig zunimmt, aber ein gutes Essen verbunden mit stundenlangem Tafeln am Wochenende ist für jeden Franzosen ein Muss. In einer einfachen Kneipe am Mittelmeer, unweit von Nizza, beobachte ich an mehreren Abenden die Essensrunde einer Gruppe von Gendarmen, die wegen des schweren Anschlags am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, die die vorhandenen Einheiten im Departement offenkundig verstärken. Das Essen ist einfach, aber es besteht aus drei Gängen. Für die Beamten, die die Schicht beendet haben und Zivilklamotten tragen, gibt es ein Glas Wein.

Das deutsch-französische Verhältnis hat sich in den zurückliegenden fünfzig Jahren stark verändert, zum Besseren. Es wird mittlerweile von den Bevölkerungen getragen, auch wenn es einseitig bleibt. Nur wenige Franzosen kommen im Vergleich zu den deutschen Urlauberzahlen ins Nachbarland, das Problem der Sprachlosigkeit existiert weiterhin, zumal auch in Deutschland die Zahl der Schüler abnimmt, die Französisch lernen. Zeigt man jedoch an, dass man die Sprache des anderen beherrscht, entsteht zumeist ein netter spontaner Wortwechsel, der das klarste Indiz dafür ist, dass die Bürger beider Länder die Lektion der Geschichte begriffen haben.

Aber ein wenig Konkurrenz und Spannung muss am Ende doch sein, die vor allem der Autofahrer zu spüren bekommt, vor allem beim Kreisverkehr, der in den letzten Jahren überall in Frankreich die Ampelkreuzung ersetzt hat. Der reaktionsschnelle Franzose erkennt in der Regel rasch, dass er ein deutsches Nummernschild vor sich hat. Vor allem die Lastwagenfahrer sind dann frech, schlüpfen mit ihrem Fahrzeug in den Kreisverkehr hinein und geben dem eigentlich Vorfahrtberechtigten das Nachsehen. Und je weiter man in Frankreich von Nord nach Süd vorankommt, verschärft sich dieser Kleinkrieg, der ein Indiz dafür ist, dass die Geschichte noch immer eine Rolle spielt, auch wenn man sie gar nicht mehr kennt. „Schade, dass Ihr bei der Europameisterschaft gegen Portugal verloren habt“, sage ich zu dem alten Freund. „Macht nichts“, lautet die Antwort. „Entscheidend war, dass wir Euch im Halbfinale geschlagen haben.“