Panorama
Über 200 Tote in Soma – „Die Zeit arbeitet gegen uns“
Nach dem Grubenunglück in Soma ist die Zahl der Toten auf mehr als 200 gestiegen, es ist von weiteren Opfern auszugehen. Gasreste in der Grube machen die Rettungsarbeiten noch schwieriger. Eine dreitägige Staatstrauer wurde ausgerufen. (Foto: cihan)
Nach dem verheerenden Bergwerkunglück in der Türkei mit mehr als 200 Toten hat die Regierung eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Im ganzen Land und an den türkischen Vertretungen im Ausland würden am Mittwoch die Flaggen auf halbmast gesetzt, teilte das Büro von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan mit. Weiterhin sind Hunderte Kumpel unter Tage eingeschlossen. Energieminister Taner Yıldız sagte, die Hoffnung nehme ab, noch Überlebende zu retten. Am Dienstag war ein Feuer in dem Kohlenbergwerk bei Soma in der Provinz Manisa ausgebrochen. Zum Zeitpunkt des Unglücks waren nach Angaben des Energieministers 787 Arbeiter in der Zeche.
Mehr als 18 Stunden nach dem verheerenden Grubenunglück im Westen der Türkei haben Rettungskräfte nach Medienberichten sechs weitere Überlebende geborgen. Unklar sei, ob die Männer verletzt seien, berichtete die Zeitung „Hürriyet“ am Mittwoch in ihrer Onlineausgabe. Weiterhin sind Hunderte Kumpel unter Tage eingeschlossen.
Der Brand in der Zeche ist nach Angaben von Energieminister Yıldız immer noch nicht unter Kontrolle. Das Feuer brenne weiterhin, sagte der Minister. Die Zahl der Toten bei dem Unglück war in der Nacht nach Angaben des Ministers auf über 200 gestiegen, 80 weitere Kumpel wurden verletzt.
Wegen eines Schichtwechsels hielten sich besonders viele Arbeiter unter Tage auf, was den Effekt der Katastrophe umso schwerwiegender machte. Auch machen Meldungen die Runde, wonach in dem Bergwerk auch zahlreiche nicht dokumentierte Arbeitskräfte zugange gewesen sein sollen.
Ursache für das Feuer war nach ersten Untersuchungen offenbar ein Defekt in der Elektrik. Ausgehend von einem Verteilungszentrum sei es zu einer Explosion und anschließend zu einem Brand gekommen.
„Schwerstes Unglück in der Geschichte des türkischen Bergbaus“
Yıldız zufolge wären Kohlenmonoxid-Vergiftungen die Ursache der meisten Todesfälle. Die Zahl der Toten könnte noch wesentlich höher liegen als die bis dato erfassten 201 Todesopfer. Die Hilfsbemühungen hätten eine „kritische Phase“ erreicht. Die Rettungskräfte stießen immer wieder auf massive Probleme, da es noch nicht gelungen sei, die Mine komplett von Gas befreien.
Nurettin Akçul, Führer einer Bergarbeitergewerkschaft, hält es für wahrscheinlich, dass sich in Soma das bislang schwerste Unglück in der gesamten Geschichte des Bergbaus in der Türkei ereignet haben könnte. „Die Zeit arbeitet gegen uns“, betonte Yıldız bereits in der Nacht, und deutete an, das die Rettungsoperation bis zum Morgengrauen abgeschlossen sein müsse. „Ich muss zu unserem Unglück sagen, dass die Schwierigkeiten noch größer werden könnten.“
Einige Kumpel seien 420 Meter tief in der Mine eingeschlossen gewesen. Die Arbeiter hätten nicht über die Aufzüge aus der Mine gelangen können, weil die Explosion einen Stromausfall verursacht habe. Behörden gehen von zwischen 200 und 300 Arbeitern aus, die infolge der Explosion von der Verbindung nach oben abgeschnitten wurden.
Premierminister Recep Tayyip Erdoğan verschob einen geplanten eintägigen Aufenthalt in Albanien, um stattdessen nach Soma zu reisen. Präsident Abdullah Gül wies den Gouverneur von Manisa an, alle Kräfte zum Rettungseinsatz für die gefangenen Arbeiter zu mobilisieren. Die türkische Armee ließ eine Expertengruppe aus der nördlichen Bergarbeiterprovinz Zonguldak einfliegen, um bei den Rettungsaktionen zu helfen.
Die Betreiberfirma der Mine, Soma Kömür İşletmeleri A.Ş., kündigte in einer Aussendung eine Untersuchung des Unglücks an und äußerte, das Unglück habe sich „trotz höchster Sicherheitsstandards und konstanter Kontrollen“ ereignet. „Unser Hauptaugenmerk gilt nun der Rettung der Arbeiter, damit diese wieder mit ihren Familien vereint werden können.“
Minenunglücke sind in der Türkei keine Seltenheit. Die Sicherheitsbedingungen sind in vielen Bergwerken unzureichend. Die bisher schlimmste Katastrophe war die Gasexplosion nahe des Schwarzen Meeres in der Provinz Zonguldak, die 1992 insgesamt 263 Arbeiter das Leben kostete.
AKP lehnte parlamentarische Initiative zur Arbeitssicherheit im Kohlebergbau ab
Die Opposition versucht bereits, dem Unglück eine politische Komponente hinzuzufügen. Der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi; CHP) für Manisa, Özgür Özel, erklärte, die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkinma Partisi; AKP) habe noch vor 20 Tagen eine von 60 Abgeordneten aus allen Oppositionsparteien eingebrachte parlamentarische Initiative zur Arbeitssicherheit im Kohlebergbau abgelehnt, die schwerpunktmäßig auch Unfälle in der Anlage von Soma in den Fokus nehmen sollte. „Es war offensichtlich, dass etwas passieren würde“, so Özel.
Das türkische Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit erklärte hingegen, die Grube sei zuletzt am 17. März auf Sicherheitsmängel untersucht worden und es habe keine Beanstandungen gegeben. Insgesamt habe es im Laufe der vorangegangen zwei Jahre vier Inspektionen gegeben. Es seien dabei keine Übertretungen von Arbeitssicherheitsvorschriften festgestellt worden.
Schweigeminute in Deutschland
Bergleute selbst klagten hingegen gegenüber den Medien, dass es zu wenig Sicherheit in den Gruben und Zechen gäbe. Die Geschäftsführungen seien lediglich am Gewinn interessiert und die Gewerkschaften gerierten sich als Marionetten, hieß es etwa seitens eines Bergmanns gegenüber der AFP.
Die deutsche Bergbaugewerkschaft IG BCE hat den Bergleuten der Unglücksgrube in der Türkei Unterstützung zugesichert. IG BCE-Chef Michael Vassiliadis sagte am Mittwoch auf dem DGB-Bundeskongress in Berlin: „Wir trauern mit unseren Kollegen in der Türkei.“ Zugleich forderte er, dass die Bergwerke weltweit endlich sicherer werden müssten. Die rund 400 Delegierten des Gewerkschaftskongresses gedachten der Opfer des Grubenunglücks mit einer Schweigeminute. (dpa/dtj)