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„Na, hat ja keiner gesehen“

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Blindenfußball ist in Deutschland immer noch exotisch. Dabei verdient er in vielerlei Hinsicht große Anerkennung: Er gibt Blinden die Chance, Fußball zu spielen – und sehenden Menschen die Gelegenheit, dankbar zu sein.

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Blindenfußballer Hasan Altunbas.
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Sonntagmorgen in Dortmund-Kirchderne. Es herrscht Eiseskälte, der Wind bläst scharf. An diesem Wochenende wurden wegen Schneefalls und Glättegefahr viele Samstags- und Sonntagspartien in den Kreisligen von NRW abgesagt. Wir fahren dennoch auf eine Sportanlage. Sie besteht aus zwei Bereichen. Auf beiden Seiten ist trotz der polaren Temperaturen viel Betrieb. Die eine Hälfte ist deutlich besser besucht. Wir gehen zunächst bewusst auf die weniger gut besuchte Hälfte. Wir hatten im Vorfeld mit einem Sportler einen Termin vereinbart. Ein Sportler, der nicht allzu bekannt ist, aber viel Respekt verdient. Wir schauen uns heut Blindenfußball an.

Guides hinter dem Tor

Heute spielt Dortmund gegen Essen. Vor der Partie gibt es eine Aufwärmphase – einige Runden laufen, die Muskeln dehnen. Mit dem klassischen Dribbling und Schusstraining endet die Aufwärmphase. Ein Spieler läuft mit dem Ball auf den Torwart zu und schießt ins Toraus. Ein „Guide“ hinter dem Tor ruft „Weit rechts vorbei“, woraufhin der Schütze mit Witz „Na, hat ja keiner gesehen“ erwidert. Beim nächsten Anlauf mit dem Ball geht der Ball aufs Tor. Es fällt auf, dass der Spieler sich nicht auf die rechte Seite orientiert. Die vorherige Information „Weit rechts vorbei“ hat ihm die Richtung präzisiert.

Nach einigen Minuten erscheint der Gegner auf dem Platz. Nach einer freundlichen Begrüßung durch die Heimmannschaft tasten die Spieler erst einmal das Spielfeld ab. Die Spieler und auch Spielerinnen gehen mithilfe ihrer Guides die Banden des 20 mal 40 Meter großen Spielfeldes ab.

Auf der anderen Seite der Sportanlage läuft zur selben Zeit ein zweites Spiel. Eine Mannschaft trägt weiße Shirts, schwarze Hosen und schwarze Stutzen, die andere Mannschaft läuft in rot-schwarz auf. Ein ganz gewöhnliches Spiel. Das Spiel auf der anderen Seite ist hingegen ein ganz besonderes: Das Spielfeld ist schwarz, der Schiedsrichter bewegt sich wenig, die Trikots sind alle gleich und der Ball klingelt. Spannung? Die gibt es auf beiden Spielfeldern.

„Voy!“: Einer der wichtigsten Rufe im Blindenfußball

Auf dem dunklen Feld, das so groß ist wie ein Handballfeld, ist ständig „Voy“ zu hören. Jeder Spieler auf dem Feld ruft das. Es ist ein spanisches Wort und bedeutet „Ich komme“. Der Gegner soll wissen, dass jemand in seiner Nähe ist. Bei dieser Partie steht hinter beiden Toren ein weiteres Teammitglied. Der Bewegungsradius des Torwarts ist auf einen Zwei-Meter-Raum begrenzt. Den darf er unter keinem Umstand verlassen. So lautet die Regel. Das Spielfeld ist etwas kleiner als das zweite auf der Anlage. Jede Mannschaft stellt mit Torwart und dem Guide hinter dem Tor insgesamt sechs aktive Spieler, davon vier Feldspieler. Der Guide steht hinter dem gegnerischen Tor und dirigiert den Feldspieler. Das ist zwingend nötig, denn die Spieler auf diesem Platz sind blind.

Hasan Altunbas (Foto) ist in dieser gerade einmal acht Jahre alten Disziplin ein begabter deutscher Nationalspieler. Sein Mitstürmer Cengiz ist schon länger in der Nationalmannschaft und wird nun Platz für den 24-jährigen Hasan machen. Hasan ist vom Beruf Physiotherapeut. Seine Massage hat einen guten Ruf im ganzen Kreis. Seine Sehbehinderung ist vielleicht auch ein Faktor, weshalb er so sensibel massiert und therapiert. Laut aktuellem Stand der Wissenschaft haben blinde Menschen oft andere, stärker ausgeprägte Sinne. Auch der Hörsinn ist bei blinden Menschen für gewöhnlich deutlich präziser ausgebildet. Das Gehör ist Orientierung und gibt im alltäglichen Leben blinder Menschen die Richtung an. Deshalb ist der sechste Mann im Blindenfußball als Guide auf dem Platz so wichtig.

Hören, wo das Tor steht

Hat Hasan einmal den Ball am Fuß, weiß er als erfahrener Blindenfußballer sofort, in welche Richtung er stürmen muss, aber wo das Tor steht, kann er ohne externe Hilfe nicht präzise ermitteln. Dafür steht der Dirigent direkt hinter dem gegnerischen Tor. Sobald Hasan den Ball hat, wendet er sich Richtung Ende der gegnerischen Hälfte. Der Dirigent leitet schnellstmöglich an… „10 Meter… rechts… hier… hier… hier…(voy…voy..) acht Meter… hier… hier… hier… Schuss.“ So hört es sich an, wenn Hasan alleine an den Verteidigern vorbei Richtung Tor marschiert. Kommt ein Mitspieler mit, ruft er auch „hier“ und teilt seine Position mit.

Der Ruf „Voy“ ist im Prinzip Selbst- und Gegner-Schutz zugleich. So verhindern die Spieler einen Zusammenprall, der zu Verletzungen führen könnte. Einige Spieler tragen Knie- und Kopfschutz, denn die Spieler laufen ohne Hemmungen und kämpfen mit Einsatz um den Sieg. Die Augen der Feldspieler müssen immer mit einer Maske abgedeckt werden, um einen Sehrest bei den Spielern auszugleichen. Hasan weiß auch immer genau wo der Ball ist. Denn es ist kein gewöhnlicher Ball. Während ein normaler Fußball um die 350 Gramm wiegt, wird im Blindenfußball mit einem kleineren, 560 Gramm wiegenden Ball gespielt. Der Grund dafür ist zum einen, dass innerhalb des Balles ein Klingelsystem eingebaut ist. Diese sechseckigen Metalltaschen mit gleichmäßigen Metallkügelchen, die bei jeder leichten Ballberührung läuten, dienen dem blinden Fußballer zur Lokalisierung des Balles. Zum anderen wird durch den schweren Ball dafür gesorgt, dass er möglichst oft am Boden bleibt. Der schwere Ball prallt auf den Boden und gibt zusätzlich einen Hinweis darauf, wo er genau ist.

Das Blindenfußball-Freundschaftsspiel zwischen ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne und Essen beginnt. Die Mannschaft in den grünen Trikots ist Dortmund. Essen läuft in Rot-Weiß auf. Einige Spieler haben lange Jogginghosen an, andere laufen professionell mit Schienbeinschonern und Stutzen auf. Das ist aber nur für die etwa 25 Zuschauer am Spielfeldrand interessant. Sie unterstützen die Spieler mit Schlägen gegen die Bande. So wissen die Spieler auch, wo die Bande ist. Auf internationaler Ebene und auch in der Bundesliga ist dies allerdings verboten. Dort stehen stattdessen weitere Guides am Spielfeldrand. Die Zuschauer müssen dort leise sein, um die Konzentration der Spieler nicht zu stören. In der Bundesliga werden die Zuschauer und die Auswechselspieler auch meist mit Kopfhörern ausgestattet. Das Spiel wird dann von zwei Reportern live kommentiert.

Ein Pass in den Fuß

Essen spielt in dieser Partie eher zurückhaltend, eingeschüchtert durch die dominanten Dortmunder Gastgeber. Man merkt, dass diese sehr eingespielt sind. Hasans Mitspieler Cengiz spielt aus der Abwehr heraus einen phänomenalen Pass exakt in den Fuß von Stürmer Hasan. Dann kommt die Unterstützung des Guides hinter dem Tor. „Links“.. „links“.. („voy“… „voy“…) „hier“… „hier“… „Schuss“… „Jaaa, Tooor“… (Applaus): Dortmund geht mit 1:0 in Führung. Hasan hat einen super Schuss hingelegt. Seine Freude sieht man an seinem Grinsen. Ein Tor ist ihm aber zu wenig. In dem Spiel erzielt er noch drei weitere Tore. Die erste Halbzeit ist nach 15 Minuten vorbei. Es steht 3:0 für das Heimteam.

Hasan spricht von internationalen Begegnungen und sogar Weltmeisterschaften. Die deutsche Blindenfußball-Nationalmannschaft ist bei den letzten Weltmeisterschaften in Japan im Halbfinale gegen Brasilien mit einem 0:4 ausgeschieden. „Die Brasilianer sagten nach der Partie mit Blick auf das Halbfinalspiel bei der WM: ‚Jetzt steht es nur noch 7:5 zwischen Deutschland und Brasilien‘“, erzählt Hasan von der Begegnung mit großer Freude. „Ich hoffe, dass wir es zur nächsten Weltmeisterschaft in Rio schaffen“, fügt der deutsche Nationalspieler hinzu. Er will Revanche für das Ausscheiden.

5000 Euro im Monat

In Deutschland etabliert sich der Blindenfußball erst neu. In Brasilien spielte man schon in den 1960er Jahren diese besondere Art des Fußballs. Dort verdienen die Stars im Blindenfußball bis zu 5000 Euro im Monat und leben damit unabhängig und selbständig. Eine solche Regelung würde den Fußballern in Deutschland gut tun, denn hier müssen sie sogar größere Summen in ihren geliebten und Lebensfreude gebenden Sport aus der eigenen Tasche investieren. Hasan erzählt, dass ihre Liga aktuell nur aus neun Mannschaften besteht. Dazu zählen Mannschaften aus Marburg, Chemnitz und Stuttgart. Für diese Strecken haben die Sportler nicht einmal einen Mannschaftsbus zur Verfügung. Für die Spiele werden Termine vereinbart, an denen alle Mannschaften zusammenkommen. Meistens sind das zwei aufeinander folgende Wochenendtage. Es wird solange gespielt, bis jeder einmal gegen jeden gespielt hat.

Die Stuttgarter Mannschaft hat durch Kooperation mit einer Blindenschule eine sehr gute Nachwuchsabteilung, erklärt Hasan beneidend. „Uns fehlen leider die Spieler“, erklärt Spielertrainer Cağlıalp. „Eigentlich bin ich einer der schlechteren Spieler. Aber da uns Spieler fehlen, helfe ich in der Abwehr aus.“

Die ersten Bundesligaspiele dieser Saison im Blindenfußball werden im Mai in Chemnitz ausgetragen. Dort werden die Teams von MTV Stuttgart 1843, Blista Marburg, Chemnitzer FC, VfB 09/13 Gelsenkirchen, FC St. Pauli 1910, SG Eintracht Braunschweig/Viktoria 89 Berlin, ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne, PSV Köln und BFW/VSV Würzburg aufeinandertreffen. In der letzten Saison wurde MTV Stuttgart Meister – zum fünften Mal.

Und für wen schlägt Hasans Herz im Profifußball? Der 24-Jährige ist ein treuer Fan von Borussia Dortmund. Sein größter Wunsch ist es, eines Tages BVB-Star Ilkay Gündoğan zu begegnen und sich mit ihm zu unterhalten. Das Spiel gewinnen Hasans Dortmunder mit 6:1. Danach kommt ein neues Team in königsblauen Trikots. Auch sie erscheinen als sehr ehrgeizig. Die Aufwärmphase wirkt sehr professionell. Heute spielen auch sie gegen Essen. „Voy!“