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Gesellschaft

Mit einem Klick Blut an den Händen

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Der IS und andere Terrorgruppen nutzen die Regeln der Aufmerksamkeitsöknomonie in der digitalen Welt für sich, wenn sie brutale und verstörende Hinrichtungsviedeos über das Internet verbreiten. Wir dürfen ihnen dabei nicht in die Hände spielen.

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Vergangene Woche war ein Video im Umlauf, auf dem zu sehen war, wie mutmaßlich zwei türkische Soldaten durch den IS grausam hingerichtet wurden. Sie wurden verbrannt.

Wir wissen nicht, ob die Aufnahmen echt sind oder nicht. Selbst die türkische Regierung schwieg seit Tagen. Erst gestern äußerte sich mit Numan Kurtulmuş ein hoher Vertreter. Wirklich etwas Neues sagte er aber auch nicht. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass das Video echt sei. Stattdessen bekamen die (Sozialen) Medien ihr Fett ab.

Ich habe das Video auf YouTube oder sonstigen Kanälen nicht aufgerufen. Ganz bewusst nicht.

Denn mit jedem Klick, den ich als Internetnutzer mache, werde ich zum Konsumenten von Gewalt und Tod: Hinrichtungen, Schlägereien und Schändungen, Vergewaltigungen oder lediglich „harmlose“ Erniedrigungen sind eine der vielen Gesichter von physischer und psychischer Gewalt.

Was viele nicht bedenken, wenn sie solche Videos googlen, ist, dass sie mit ihrem Verhalten dem IS in die Karten spielen. Je höher die Besucherzahl, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass solche unmenschlichen Taten häufiger geschehen – und zwar mit sorgfältiger Planung und publikumsgerechter Darstellung.

Damit spielt der IS mit den Emotionen seiner Zuschauer, die aufgeregt und voller Wut – nach geraumer Zeit sogar abgehärtet und stumpf – seinen Taten zusehen.

Das Ganze hatte zwar nicht seine Anfänge, aber zumindest seinen Höhepunkt mit der öffentlichen Zurschaustellung der Hinrichtung von Saddam Hussein heute vor exakt zehn Jahren, einem Vertreter der islamischen Welt – ob und inwiefern seine Taten islamisch waren, sei dahingestellt – und einem mythenbehafteten Gegner der USA. Mit der Einbeziehung der Öffentlichkeit, also von Millionen von Menschen, die von ihren Sofas aus zuschauen konnten, wie Saddams Leben ein Ende gesetzt wurde, ist der Tod jenseits realer Erreichbarkeit konsumierbar geworden, gegebenenfalls mit Pizza oder Popcorn.

Dies wiederholt sich seither durch systematische Hinrichtungen durch Terrororganisationen wie dem IS, noch frequentierter, noch pervertierter. Sie nutzen die Medien zu ihren Gunsten, um Angst zu verbreiten und Gemüter in Aufruhr zu versetzen.

Die Psyche der IS-Kämpfer 

Während sie unumstößlich an die Notwendigkeit ihrer Taten glauben, werden sie von den westlichen Medien als barbarisch, fanatisch und unberechenbar präsentiert. Dabei besteht der IS nicht nur aus ungebildeten, gewaltbereiten Menschen. Es sind oftmals Menschen, die konvertiert sind und rekrutiert wurden, weil sie in ihrer bisherigen Gesellschaft in Europa oder sonstwo keine Anerkennung gefunden haben, keine Zukunftsaussichten, keine sozialen oder emotional stabilen Verhältnisse, keine gute Bildung, kein Ziel haben und zudem eine Identitätskrise durchleben. Aus dieser werden sie herausgeholt von „Missionaren“, die ihnen ein besseres Leben, Bruderschaft, das Gefühl von Einigkeit, einen gemeinsamem Kampf gegen „Ungerechtigkeiten“ versprechen und ja, auch 72 Jungfrauen, die im Himmel auf sie warten.

Im Namen Gottes, im Namen des Islam, geben sie vor, zu handeln und zu töten. Jedoch sind es keine Gläubigen, sondern es sind Menschen, die nach Anerkennung suchen. Die haben sie beim IS gefunden. Er gibt ihnen das, was ihnen bisher im Leben verwehrt geblieben ist. Diese Menschen bekennen sich fortwährend zu Anschlägen und Massakern, posten diese fortwährend auf ihren Kanälen.

Wofür? Für Popularität und Anerkennung.

Exhibitionismus und Voyeurismus sind zwei Seiten derselben Medaille 

Dabei geht es, so wenig wie bei Donald Trump, um das „Gute“, sondern um Anerkennung, darum, gesehen und wahrgenommen zu werden, ganz gleich um welchen Preis. Es ist eine Art Exhibitionismus, der daraus resultiert, weil diese Menschen zu lange nicht gesehen, bemerkt wurden als „normale“ Bürger, ja sich sogar diskriminiert, ausgegrenzt oder einfach nicht beachtet gefühlt haben.

Dieser Exhibitionismus jedoch funktioniert nur, wenn es auch Hinschauende gibt. Das sind Menschen wie wir, die auf die Videos klicken, diese verbreiten, darüber reden und diskutieren, davor Angst haben.

Angst wiederum vermittelt dem IS Macht. Er wird umso mehr solche Videos posten, in denen weitere Gesichter und geschändete Körper der Opfer gezeigt werden – würdelos, anstandslos.

Die Tatsache, dass die Hinrichtenden nicht einmal ihre Gesichter verbergen, zeugt mehr als genug davon, dass sie eine gewisse Befriedigung erfahren – nicht zu vergessen auch durch die vielen Klicks und Kommentare. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ihre Taten nicht nur mit einem Handy oder einer Kamera filmen, sondern wie am Filmset mehrere Kameras aufstellen und Hinrichtungen wie ein drehbuchreifes Szenario aus verschiedenen Perspektiven filmen.

Und das alles für die Zuschauer da draußen

Dieser Kreislauf kann nur durchbrochen werden, wenn wir lernen mit Nachrichten und dem, was wir konsumieren, kritischer umzugehen. Denn solange wir weiterhin einen weiteren Klick machen – und noch besser – das „Fundstück“ über soziale Medien verbreiten und zur Diskussion stellen, indem wir uns emotional darauf einlassen, werden wir an der Tatsache, dass diese Morde und Anschläge weiterhin stattfinden, nichts ändern können.

Ganz im Gegenteil. Wir animieren sogar Terroristen, diese Morde auch noch zu filmen.

Denn jeder Klick bedeutet zugleich, dass wir das Aufmerksamkeitsdefizit des IS noch weiter verstärken, dieses füttern und schließlich immer mehr in die Position des Verängstigten rücken, während sie sich mit jedem Tag über die hohen Reichweiten ihrer Beiträge freuen.

Mit jedem Klick, den wir tätigen, klebt Blut auch an unseren Händen

Nicht nur, wenn wir die Taten des IS mitverfolgen, sondern auch bei anderen Ereignissen, die uns eigentlich zuwider sind. Man denke an die unzähligen Gegner Donald Trumps und gleichzeitig die Popularität seiner Person. Er hat dieses Jahr statistisch die meiste mediale Präsenz erreicht und wird zugleich von mindestens genauso vielen Menschen abgelehnt – inklusive derer, die ihn bei Talkshows, Reden, Auftritten, über soziale Medien und auf Twitter mitverfolgt und sogar „disliked“ haben.

Man kann die Taten des IS selbst nicht verhindern. Er wird weitermachen. Zumindest aber kann man selbst etwas dafür tun, einer Hinrichtung, Foltertaten oder sonstigen Gewaltakten nicht virtuell beizuwohnen.

Befriedigung kennt kein Gut oder Böse

Man kann ihren Durst nach Aufmerksamkeit stillen, indem man sie nicht mit „Klicks“ füttert. Je mehr Zuschauer weltweit ihnen ein Gesicht geben, umso gesichtsloser werden die Opfer sein, da sie zu einer Masse verschmelzen. Denn es werden zu viele, unzählige. Je mehr Zuschauer hinschauen, umso würdeloser müssen ihre Opfer sterben.

Alternative Nachrichtenquellen

Ich plädiere nicht für ein Wegschauen. Dieser Fehler wurde bereits zu Nazizeiten gemacht. Goebbels, der die Medien geschickt für die Zwecke des Naziregimes einzusetzen wusste, hat damit Massen manipuliert, gelenkt, sogar in Euphorie versetzt. Dennoch, rational betrachtet: Die Gestapo war nicht mächtig, weil sie in der Überzahl gegenüber der Bevölkerung war. Hitler war nicht mächtig, weil er ein Mikrofon hatte und laut war. Nein, sie waren mächtig, weil die Menschen weggeschaut und geschwiegen haben. Passivität und Angst waren der Nährboden für den Abtransport der Juden aus ihren Häusern und die systematischen Säuberungen.

Genau diese Ängste und Passivität werden erneut durch solche Videos wie vom IS heraufbeschworen. Durch die visuelle Darstellung spielt er mit Emotionen und manipuliert diese.

Dabei kann dies vermieden werden, indem man seriöse Nachrichtensendungen guckt, Printmedien liest oder Radio hört, Berichterstattern folgt, denen man Kompetenz und sorgfältige Recherche zutraut. Denn sie werden nicht mit sensationellen Videos und Schlagzeilen überzeugen, sondern mit informativem Gehalt und ausgewogener Berichterstattung.

Es muss also bei uns im Kopf „Klick“ machen. Je bedachter wir mit Medien und insbesondere mit solcher Art von visuell kommunizierten Dokumenten umgehen, umso weniger wird die Motivation der Urheber und Autoren sein, diese Taten zu filmen. Denn die Würde eines Menschen sollte auch beim Sterben und im Tode bewahrt werden. Es ist unser aller Verantwortung, sie einzuhalten und zu respektieren.