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Kolumnen

Braucht Deutschland eine christliche Aufklärung?

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Ich sitze im Abteil für mobilitätsbeschränkte Reisende eines ICE-Zuges, der aus Berlin nach Ulm fährt. Ich frage die alte Dame, die am Fenster sitzt, um Erlaubnis, ihr gegenüber zu sitzen, weil ich während der Fahrt am Rechner arbeiten muss. Denn in Ulm wartet ein Vortrag auf mich.

„Worüber tragen Sie denn vor?“, will sie wissen. „Über die heilige Maria“, antworte ich. „Ach so? Ich dachte sie seien Türke und Muslim“, ist sie verwundert. Tatsächlich bin ich beides. „Jedoch genießen sowohl Maria als auch Jesus im Islam eine besondere Wertschätzung.“ Der alte Herr aus Stuttgart blickt mich erstaunt an, und der junge Mann, der beinahe eingeschlafen war, reißt beide Augen auf. „Das wusste ich aber nicht und Sie?“, fragt die Dame den alten Herrn. „Ich wusste das ebenfalls nicht“, antwortet er ihr. „Schon wieder was Neues gelernt“, sagt die Dame kopfnickend, „es hat sich schon gelohnt, heute hier zu sein“.

Während der 6,5-stündigen Fahrt arbeite ich noch an meiner Präsentation und stelle nur ein einziges Mal eine Frage, was Maria Empfängnis angeht. Keiner kann mir eine richtige Antwort liefern. Sie kennen selbst den Namen von Marias Mutter nicht.

Ich denke mir: Merkel hat doch recht! Deutschland braucht eine christliche Aufklärung, in deren Rahmen Menschen sorgfältiger unterrichtet werden, was zumindest Personen wie Jesus, Maria, Zacharias und Johannes der Täufer angeht. Wie kannst du von Menschen, die kaum etwas über ihre eigene Religion wissen, erwarten, dass sie den Stellenwert von Maria und Jesus im Islam kennen? Schließlich kann dieses Abteil doch nicht als Maßstab für ganz Deutschland dienen, dafür sollte man zumindest alle Passagiere dieses ICEs befragen. Mir fällt auf, wie unausgewogen meine Gedanken sind.

Endlich erreiche ich Ulm, die Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt. Wir referieren mit Dr. Oliver Schütz, der für die katholische Erwachsenenbildung im Donaukreis und Ulm zuständig ist. Burak Alpertonga, der netter, selbstbewusste Geschäftsführer der Gesellschaft für Dialog Baden-Württemberg, heißt uns willkommen.

Der Abend ist für mich aus drei Gründen besonders. Erstens: Wir haben die US-Wahlen hinter uns! Zweitens: Es ist der Geburtstag meines Sohnes. Drittens: Wir reden über Maria, die auserwählte Frau, und versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Christentum und Islam herauszufinden. Schnell kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Gemeinsamkeiten dermaßen überwiegen, dass man „Geschwister-Religionen“ sprechen kann.

Es ist ein informationsreicher Abend… Ich referiere über den ehrwürdigen Imrān, den Großvater mütterlicherseits Jesu, sein Haus (āl-i Imrān) sowie Großmutter Hanna und lerne seine Großväter väterlicherseits kennen – nämlich die Ahnen von Joseph, dem Zimmermann und Verlobten Marias nach der christlichen Lehre. Wie Dr. Schütz es auf den Punkt bringt: Es gibt Informationen, die ausschließlich Muslime kennen, Christen aber nicht – und andersherum. Diese Informationen gehören zusammen. Die christliche und muslimische Lehre sind sehr nah beieinander, wenn auch nicht deckungsgleich. Dass sie dennoch als so unterschiedlich wahrgenommen werden, ist alles andere als selbstverständlich.