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Gesellschaft

Was wir aus der Tat Breiviks lernen sollten

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Vor drei Jahren ermordete Anders Behring Breivik in Oslo und Utoya 77 Menschen. Sein Motiv entsprang der Überzeugung, er müsse Europa und das „Abendland“ vor dessen angeblicher Bedrohung durch die „Islamisierung“ retten. (Foto: reuters)

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Am 22. Juli 2011 berichteten die ersten großen Medienformate über eine Bombe, die im Zentrum von Oslo hochgegangen sei. Auch von einer nicht näher konkretisierten Schießerei auf einer Ferieninsel ist die Rede. Um 17.14 schrieb ein facebook-Nutzer: „Wer das war ist ja wohl klar. Für mich zumindest.“

Kurz darauf äußert ein weiterer: „Auf n-tv reden sie Klartext von starkem muslimischen Jugend-Milieu, die sich bewusst zu Dschihad-Kämpfern ausbilden lassen.“ Nachfrage an anderer Stelle: „Steht denn überhaupt schon fest, dass das Islamisten waren?“ – Antwort: „Ist der Papst katholisch?“

Es dauerte nicht mehr lange, bis eine für viele äußerst überraschende Information aus dem Dickicht der Einzelmeldungen drang: Es wurde ein Norweger verhaftet, blond, blauäugig, Biobauer, ehemaliges Mitglied der rechtsradikalen norwegischen „Fortschrittspartei“ und Autor eines 1500 Seiten umfassenden Manifests, in dem so ziemlich all das Eingang fand, was seit Mitte der 2000er erst Allgemeingut auf einschlägigen Blogs wurde, von dort aus immer mehr zum Inhalt von Leitartikeln und Kommentaren in etablierten Massenmedien wurde und in Deutschland ein Jahr zuvor zum Kassenschlager auf dem Buchmarkt geworden war, als ein ehemalige Berliner Finanzsenator und Bundesbanker seinen ersten Bestseller landen konnte.

Im Manifest „2083: Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“ beschreibt der später als 77-facher Mörder, Bombenleger von Oslo und Amokläufer gegen Teilnehmer eines Jugendlagers der Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten verurteilte Anders Behring Breivik eine Vision, wie sie so genannte „Islamkritiker“ von ganz Links bis ganz Rechts seit dem 11. September 2001, den Anschlägen djihadistischer Extremisten in Madrid und London 2004 und 2005 oder der Ermordung islamfeindlicher Politiker und Journalisten wie Pim Fortuyn oder Theo van Gogh immer wieder skizziert hatten.

Die Logik der bevorstehenden Apokalypse

Demnach würde „der Islam“ planen, mittels millionenfacher Einwanderung und höherer Geburtenzahlen „den Westen“ zu unterwandern, früher oder später die alteingesessene Bevölkerung zu majorisieren und am Ende zu unterwerfen. In diesem Zusammenhang würde der so genannte „Multikulturalismus“ dazu führen, dass Einwanderern keine Anpassung mehr an „westliche Werte“ abverlangt würde und dass auf diese Weise durch „Islamisierung“ die „abendländische Kultur“ untergehen würde.

Da ein so geschwächter „Westen“ nicht mehr in der Lage wäre, der Bedrohung durch „den Islam“, der dieser Lesart gemäß keine Religion, sondern eine „politische Ideologie“ wäre, wirksam zu begegnen, müssten drastische Maßnahmen getroffen werden. Während die einen dafür plädieren, die religiösen Rechte und Freiheiten der Muslime einzuschränken und in möglichst umfassender Weise staatlichen Einfluss in der Erziehung muslimische Kinder sicherzustellen, fordern andere gleich eine massenhafte Ausweisung muslimischer Einwanderer aus Europa oder ein gewaltsames Vorgehen gegen Muslime oder politische Kräfte, die diesen aus ihrer Sicht zu große Toleranz entgegenbringen würden – wie eben Anders Breivik.

Natürlich ist die auf die Spitze getriebene „Islamkritik“ nicht der einzige Faktor, der den Attentäter von Norwegen zu dem machte, was er wurde. Wer die Biografie Breiviks betrachtet, der erkennt Muster wieder, wie sie auch auf andere Personen zutreffen, die sich dem Terrorismus zugewandt hatten. André F. Lichtschlag zieht in „eigentümlich frei“ einen Bogen zwischen mehreren Terroristen, die Produkte der „vaterlosen Gesellschaft“ sind: „Andreas Baaders Vater stirbt in russischer Kriegsgefangenschaft, als dieser zwei Jahre alt ist. Baader sieht seinen Vater nur ein einziges Mal und bleibt ohne Erinnerung an ihn. Jahrelang wächst er bei der Oma auf, bevor seine Mutter zurückkehrt. Die Eltern von Timothy McVeigh lassen sich scheiden, als dieser zehn Jahre alt ist. Er wächst danach bei seinem Vater und dessen Freundinnen auf. Die Eltern von Anders Behring Breivik lassen sich scheiden, als dieser nur ein Jahr alt ist. Seit 16 Jahren hat Breivik keinen Kontakt mehr zum Vater, der sich heute wünscht, sein Sohn ‚hätte sich besser umgebracht‘. Über seine Mutter schreibt Breivik in seinem ‚Manifest‘: ‚Meine Mutter wurde von meinem Stiefvater mit Genitalherpes infiziert, da war sie 48 Jahre alt. Er hatte mehr als 500 Sexualpartner, von denen sie auch wusste, aber sie ignorierte es einfach – auch aus moralischen Gründen.‘“

Gebiert die vaterlose Gesellschaft ihre Extremisten selbst?

Breiviks Kindheit spielte sich in der Tat in einem nicht unerheblichen Ausmaß in staatlicher Betreuung ab, seine Mutter schob ihn zeitweilig, weil er zu „anstrengend“ wäre, über die Wochenenden hinweg in ein öffentliches Heim ab. Der Wohlfahrtsstaat nahm sich der Problemfamilie intensiv an und veranlasste die Betreuung des Heranwachsenden durch einen Kinder- und Jugendpsychiater. Erst riss Anders Breivik von zu Hause aus und wurde Teil einer Sprayerclique, später ließ er sich als 15-Jähriger in Eigenregie taufen und konfirmieren. Gleichzeitig wurde er zwischen Vater, Mutter und Jugendwohlfahrtseinrichtungen umhergeschoben, die zwar schon frühzeitig warnten, dass die Vernachlässigung des Jugendlichen die Gefahr einer manifesten psychischen Störung begünstigen würde.

Das Handelsgymnasium verließ Breivik ohne Abschluss, er arbeitete später in Callcentern, kaufte gefälschte Universitätsdiplome, verdingte sich erfolglos als Händler von Blutdiamanten, verlor Geld durch Aktienspekulationen und zog bedingt durch finanzielle Einbußen zeitweilig wieder bei seiner Mutter ein. Ab 2009 betrieb er einen Bauernhof – was ihm ermöglichte, ohne aufzufallen Düngemittel in einem Ausmaß zu erwerben, das es ihm ermöglichte, Bomben zu bauen.  

Wer die Karrieren so mancher westeuropäischer „Djihadisten“ betrachtet, die jetzt im Irak und in Syrien für das „Kalifat“ unterwegs sind, wird ein ähnliches Muster aus Kindheit und Jugend stammender, tiefer persönlicher Verletzungen und aus den Fugen geratener Verhältnisse bemerken. Politische Extremisten aller Art warten dabei nur darauf, sich diesen Leuten zuzuwenden und sie zu radikalisieren.

Mediale Islamhetze hat keine kathartische Wirkung

Es ist aber ein Trugschluss, zu glauben, dass die im Vergleich zu „djihadistischen“ Gewaltakten oder zu jenen aus dem Bereich des traditionellen Rechtsextremismus, der durch das Aufkommen der „Islamkritik“ als salonfähigerem Ersatzprogramm an Boden verloren hat, geringe Präsenz islamfeindlicher Akte in Europas öffentlichem Bewusstsein daran liegt, dass potenzielle weitere Breiviks nicht zur Tat schreiten, weil sie sich vielleicht nicht mehr so „mundtot“ fühlen, seit ihr Gedankengut gesellschaftsfähig geworden ist.

Abraham Goldstein wird im Migazin deutlich: „Rassistische Parolen, die vor 20 Jahren nicht einmal Betrunkene am Stammtisch öffentlich zu sagen wagten, werden heute wie selbstverständlich als Wahrheiten verbreitet und, sollte es einmal sachten Widerstand geben, dieser sofort als staatlich verordnete Unterdrückung der ‚Meinungsfreiheit‘ niedergebrüllt.“

Goldstein analysiert treffsicher, dass die Ziele gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit austauschbar sind, die Methoden allerdings immer die gleichen bleiben. Vieles, was heute an dehumanisierender und hetzerischer Propaganda gegen Muslime im Umlauf ist, unterscheidet sich nicht einmal in der äußeren Aufmachung wesentlich von antisemitischen Schriften der 1930er Jahre. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der nächste auf den Gedanken kommt, eigenständig und militant etwas gegen die vermeintliche Bedrohung durch „den Islam“ unternehmen zu müssen.

Anlässlich des heutigen dritten Jahrestages der Morde von Norwegen ist es Goldstein ein Anliegen, darzulegen, wie nahe der antisemitische Rassismus dem islamfeindlichen ist: „Angebliche ‚Parallelgesellschaften‘ ersetzen dabei das Motiv vom ‚Staat im Staate‘, die ‚jüdische Weltverschwörung‘ wird transferiert in die Behauptung vom verschworenen Muslim, der sich demokratietauglich gibt, aber bei entsprechender Mehrheit sofort die Scharia als Grundgesetz einführen würde. Schließlich betreibe er als Berufslügner ‚Taqiyya‘, um dem Islam zur Weltherrschaft zu verhelfen. Auch die guten alten Blutschandevorwürfe sind in der süffisanten Vergewaltigungsdarstellung deutscher Frauen wieder zu finden – als sogenannte Opfer von ‚Bereicherung‘.“

Gerade heute, wo antisemitische Ausfälligkeiten bei Pro-Palästina-Demonstrationen auch in Deutschland zu Recht Angst und Empörung vor allem innerhalb der jüdischen Community hervorrufen, scheint es Goldstein besonders wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass Rassisten nicht aufhören, Rassisten zu sein, wenn sie sich zum Zwecke des Verbergens ihrer tatsächlichen Gesinnung in Israelfahnen hüllen.