Connect with us

Allgemein

Brief aus dem Gefängnis von Journalist Sahin Alpay

Published

on

Sahin Alpay
Spread the love

In einem Brief spricht der renommierte Journalist Sahin Alpay zum ersten Mal seit 14 Monaten Haft über das Leben im Hochsicherheitsgefängnis Silivri und seinen Gesundheitszustand. Der 73 jährige Denker und Kritiker bedankt sich bei allen, die sich mit ihm solidarisieren und drückt seine Enttäuschung über diejenigen aus, die ihn im Stich gelassen haben. DTJ hat seinen türkischen Brief ins Deutsche übersetzt.

„Wir“ haben Post: Brief von Journalist Sahin Alpay

Ich schreibe diesen Brief, weil ich denke, dass meine Freunde und Leser vielleicht gerne wissen würden, wie es mir im Gefängnis geht. Bis wir nach ganzen 14 Monaten zum ersten Mal vor Gericht standen, hatten wir weder das Recht einen Brief zu verfassen, noch das Recht Briefe zu erhalten. Dies ist meine erste Gelegenheit.

Sahin Alpay: Ich habe keine Zweifel darüber, dass ich freigesprochen werde

Zunächst will ich eins sagen: Wie Sie unserer Stellungnahme vor Gericht entnehmen können, habe ich keine Zweifel daran, von der geforderten Haftstrafe „drei Mal Lebenslänglich und zusätzlichen 15 Jahren Haft“ am Ende der Gerichtsverhandlung freigesprochen werde, weil ich nie eine Straftat begangen habe. Allerdings weiß ich nicht, wie lange meine Haft noch weitergehen wird. Ich habe die AKP Regierung auf ihrem Weg, die Türkei in die EU zu tragen, unterstützt; nachdem sie sich zu einem Ein-Mann Regime entwickelt hat, habe ich mit meiner Kritik begonnen. Ich bin hier, weil ich Schriften verfasst habe, die sich gegen die Regierung richteten. Seitdem ich 1982 für Zeitungen schreibe, hat es nie einen Artikel oder eine Aussage von mir gegeben, aufgrund dessen gegen mich gefahndet wurde. Ich habe daran geglaubt, dass die Meinungsfreiheit in der Türkei, durch die Verfassung und durch die Europäische Menschenrechstkonvention, gesichert ist. Ich habe mich geirrt.

Zehntausende Landsleute wurden verhaftet, aus ihren Berufen entlassen und erleiden großes Unrecht, das sie nicht verdienen

Es ist nicht einfach, mit 73 Jahren, zahlreichen chronischen Krankheiten, in Abwesenheit meiner Ehefrau, meinen Kindern, Enkelkindern, Verwandten und Freunden, in einer 3 Mann Zelle in Isolationshaft zu leben. Ebenso wenig nicht wissen zu können, wie lange ich wohl noch hier bleiben muss. Mein Trost ist, dass das Schreiben und Reden für eine liberalistische Demokratie und für einen Rechtsstaat einen Preis hat. Meine Trauer ist, dass mein eigener Staat dieses Vorgehen mir gegenüber als legitim betrachtet, da ich doch Zeit meines Lebens mit großer Aufrichtigkeit an der Seite der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestanden habe. Meine Trauer ist, dass Zehntausende Landsleute verhaftet und aus ihren Berufen entlassen wurden und großes Unrecht erleiden, das sie nicht verdienen. Ich verurteile den Putschversuch vom 15. Juli. Ich war mein Leben lang gegen jeden Putsch und die Bevormundung durch das Militär. Diejenigen, die an diesem Putschversuch beteiligt waren, sollen in gerechten Prozessen verurteilt werden und ihre verdienten Strafen kriegen. Aber dass auch diejenigen, die nichts mit dem Putschversuch zu tun Unrecht erleiden, ist in der Geschichte der Türkei eine bisher unvergleichliche Ungerechtigkeit. Die Gerechtigkeit muss in unser Land wieder zurückkehren.

Ich bin in dem technisch am besten ausgestatteten Hochsicherheitsgefängnis der Türkei, in Silivri, in dem Trakt, in dem für gewöhnlich Terroristen untergebracht werden. Ich sitze mit zwei mir völlig unbekannten Häftlingen, die einander noch nie zuvor gesehen haben, in einer Zelle. Wegen des Ausnahmezustands kann ich lediglich einmal in der Woche, hinter einer Glaswand, durch ein Telefon, mit meiner Schwester, meiner Frau, meiner Tochter, meinem Sohn und meinen Enkeln reden. Alle zwei Monate kann ich sie für je eine Stunde auch von Angesicht zu Angesicht sehen. Bis zu meiner ersten Gerichtsverhandlung konnte ich auch mit meinem Anwalt bloß einen Tag, je eine Stunde in der Woche, vor laufender Kamera und in Anwesenheit eines Gerichtsvollziehers reden.

Das Gefängnis von Silivri ist ziemlich straff organisiert. Mittags und Abends gibt es Essenlieferung in die Zellen. Wir können aus der Kantine einkaufen, worauf wir Lust haben. Entsprechend unseren begrenzten Möglichkeiten können wir auch zum Arzt und uns Medikamente verschreiben lassen. Für unsere Wünsche müssen wir bei der Verwaltung Anträge stellen. Die meisten Gerichtsvollstrecker sind mir gegenüber wegen meines hohen Alters respektvoll. Wenn wir beispielsweise in ein Krankenhaus gebracht werden, bekommen wir Handschellen angelegt. Ein oder zwei von der Gendarmerie halten an den Armen fest. Wir dürfen erlaubte Zeitungen kaufen und uns etwa 25 Fernsehkanäle anschauen. 

In den ersten Monaten war es verboten Bücher von Außen zu lesen. Nur Bücher aus der Gefängnisbücherei waren erlaubt. Anschließend wurden Bücher von Außerhalb, unter Kontrolle genehmigt. Durch Bücherspenden ist die Bücherei im Gefängnis mittlerweile doch sehr reichhaltig geworden. Ich kann auch von meiner Familie Bücher bestellen. Gott sei Dank, wir haben kein Bücherproblem mehr.

Ich versuche meine körperliche Gesundheit trotz zahlreicher chronischer Krankheiten zu bewahren

Ich gehe täglich eine Stunde, mache regelmäßig Gymnastik, nehme meine Medizin. Dadurch versuche ich trotz ein Dutzend chronischer Krankheiten körperlich gesund zu bleiben. 

Ich versuche die Tage im Gefängnis sinnvoll zu nutzen. Bis zum Abitur hatte ich großes Interesse an der Literatur. Es war mein Ideal ein Schriftsteller für Prosa zu werden. Dann haben mich irgendwann Romane gelangweilt. Im Gefängnis erlebe ich meine zweite Blütezeit mit der Literatur. Ich versuche meinen beschämenden Nachholbedarf zu begleichen. Aber dabei kommen Philosophie und Sozialwissenschaften selbstverständlich nicht zu kurz.

Ich habe Vorbereitungen gemacht für 6-7 neue Bücher

Weil ich nahezu vergessen habe, per Hand zu schreiben und da Computer verboten sind, kann ich leider nicht viel schreiben. Trotzdem habe ich Vorbereitungen für 6-7 Bücher gemacht. Wenn ich freikomme und meine Lebenszeit dazu ausreicht, hoffe ich – so Gott will, diese Projekte noch abzuschließen. Ich weiß, dass viele Freunde und Leser an meinen Erfahrungen und Anekdoten interessiert sind. Ich wünsche sehr, meine Versprechen zu halten, bevor ich von dieser Welt gehe.

Im Gefängnis habe ich die Bedeutung von Religion und insbesondere Religiosität verstanden

Manches habe ich im Gefängnis besser verstanden. So beispielsweise was Religion und insbesondere Religiosität bedeuten. In der Theorie hatte ich das ohnehin schon verstanden, jetzt sehe ich das auch in der Praxis. Der Glauben ist für Menschen im Kampf gegen persönliche Katastrophen unverzichtbar. Dadurch, dass ich unter religiösen Menschen lebe, verstehe ich besser, dass Religiosität nicht bloß das Glauben ist, sondern auch religiöse Praxis.  

Die Gefahren des Elitismus, also der Auserwähltheit für die Demokratie und den Rechtsstaats hatte ich zwar erkannt. Aber die Erfahrung, dass auch der Populismus genauso gefährlich sein kann, machen wir jetzt. 

Ich bin den Politikern, den türkischen und ausländischen Kolleginnen und Kollegen, die sich gegen die unbegründete Verhaftung und Festsetzung von uns Journalisten und Schriftstellern erheben und uns ihre Solidarität zusichern, einen Dank schuldig. Vielen Dank! Dagegen bin ich von jenen Leuten enttäuscht, die sich davor gescheut haben, sich mit uns zu solidarisieren, obwohl sie wissen, dass uns Unrecht getan wird. Aber sie sollen wissen, dass uns Unrecht getan wird, auch das reicht. 

Meinen Brief möchte ich mit den letzten Sätzen aus dem Buch „Türkün Ateşle İmtihanı“ (dt.: Der Test der Türken mit dem Feuer) von Halide Edip Adıvar, die zu den ersten liberalen Denkerinnen der Türkei gehört, beenden. Die Worte beinhalten Erinnerungen an den Befreiungskrieg: „Freiheit ist genau wie Liebe: Sie muss jeden Tag aufs Neue errungen werden…“

Mit herzlichen Grüßen 

Şahin Alpay (Tutuklu)
Silivri Kapalı Ceza İnfaz Kurumu, 9. Bölüm C3 BLOK – ODA 17

Oktober 2017

[paypal_donation_button]