Politik
Cerattepe: Profitgier erreicht Umweltparadies
Ein Konflikt im Nordosten der Türkei beschäftigt momentan das ganze Land. Viele sehen in ihm Parallelen zu den Gezi-Protesten: Es geht um die Umwelt, Profitgier und Widerstand. Im Gegensatz zu Gezi scheint die Regierung dieses Mal aber zuzuhören.
Seit über einer Woche beschäftigt ein Konflikt die gesamte Türkei, der sich im äußersten Nordosten des Landes, in der ländlichen Region Artvin abspielt. Die Bilder der Ereignisse und die Reaktionen der regierungstreuen Medien erinnern dabei viele an die mittlerweile legendären Gezi-Proteste des Sommers 2013. Demonstrationen gegen ein Projekt, dem vorgeworfen wird, die Umwelt zu zerstören, werden zusehends zu Protesten gegen die Regierungspolitik und werden dabei von der Polizei mit Gewalt und Tränengas unerbittlich niedergeschlagen. Unterdessen tun die regierungstreuen Medien ihr bestes, die Demonstranten als Terroristen und Agenten darzustellen. Was ist da los?
Auf der Alm Kafkasör, vier Kilometer von Artvin entfernt, will ein Unternehmen aus dem Umfeld Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğans eine Kupfermine bauen. Das Waldgebiet Cerattepe ist dadurch gefährdet. Das ruft nun Proteste über die Grenzen von Artvin hinaus hervor.
Der Widerstand der Einwohner von Artvin gegen Pläne, auf der 1240 Meter hohen Alm nach Kupfer zu graben, hat eine Geschichte, die mehr als 25 Jahre zurückreicht. Und auch einen Namen: Nur Neşe Karahan, Vorsitzende des Vereins Yeşil Artvin (Grünes Artvin). Auf der Alm befindet sich das 4400 Hektar große Waldgebiet Cerattepe, laut BBC eines der 25 an Tier- und Pflanzenarten reichsten Gebiete der Welt. Es bildet einen natürlichen Schutzwall gegen Erdrutsche für die Stadt Artvin und war bis 1990 Teil des Hatila-Nationalparks.
Danach begannen Spekultationen über geplante Minenbautätigkeiten auf dem Hochplateau. Deshalb wurde 1995 der Verein Yeşil Artvin gegründet, um die Zerstörung der natürlichen Landschaft wegen reiner Profitgier zu verhindern. Die Vorsitzende Karahan fordert den sofortigen Abbruch der ihrer Meinung nach illegalen Baumaßnahmen und den Rückzug des Unternehmens Eti Bakir A.Ş., das der Cengiz Holding gehört, aus dem Gebiet: “Wir haben heute eine Strafanzeige gegen den Gouverneur, den Polizeipräsidenten und den Kommandeur der Gendarmerie von Artvin gestellt, weil sie unverhältnismäßige Gewalt gegen die Einwohner von Artvin angewendet haben. Zudem haben sie ohne eine gesetzliche Grundlage und Genehmigung dem Unternehmen in Begleitung von Sicherheitskräften den Zugang zu dem Gebiet gewährt.“
Tatsächlich glich Cerattepe in den vergangenen Tagen des öfteren einem Kriegsschauplatz. Die Sicherheitskräfte versperrten Tausenden von Einwohnern und Umweltaktivisten den Zugang in das Gebiet. Einige Demonstranten versuchten, eine Polizeikette zu durchbrechen und trafen auf Schutzschilde. Seit über einer Woche demonstrieren die Aktivisten gegen das Bergwerk. Die Umwelt werde dadurch massiv geschädigt, lautet der Vorwurf.
Nicht wenige sprechen von einem neuen Gezi-Geist, durch den die Proteste auf andere Städte überspringen und sich zu Kundgebungen gegen die Regierung entwickeln könnten. Karahan will das verhindern. Ihr geht es in erste Linie darum, eine möglichst partei- und lagerübergreifende Solidarisierung gegen den Bau der Mine zu mobilisieren. Der Erfolg der vergangenen Jahrzehnte geht genau auf diesen Konsens zurück.
Im Gegensatz zu den Unternehmen, die in der Vergangenheit Minen in dem Naturparadies bauen wollten, ist die Cengiz Holding jedoch ein Konzern aus dem Umfeld Erdoğans. Sie ist schwerpunktmäßig in den Bereichen Bau und Tourismus aktiv und mit öffentlichen Aufträgen der AKP-Regierung zu einem der grössten Unternehmen der Türkei aufgestiegen. Ihr Name fiel bereits im Rahmen des Korruptionsskandals von Ende 2013. Darüber hinaus soll sie beim Aufbau einer Erdoğan-treuen Medienlandschaft mitgewirkt haben. So ist es nicht verwunderlich, dass regierungsnahe Medien die friedlichen Proteste diskreditieren und in die Nähe terroristischer Aktivitäten rücken. „In Artvin-Cerattepe provozieren die Kreise um CHP, HDP und PKK weiterhin Zwischenfälle. In Cerattepe hat eine von den Medien der PKK und FETÖ (von regierungsnahen Medien zur Diffamierung der Hizmet-Bewegung verwendeter Begriff, Anm. d. Red.) angestachelte Gruppe unter dem Vorwand, dass Bäume gefällt werden sollen, die Polizei angegriffen,“ schreibt beispielsweise die Tageszeitung Sabah.
Diese Unterstützung der Regierung und der ihr ergebenen Claqueure in den Medien, machen den großen Unterschied zu bisherigen Projekten in Cerattepe, was man auch an Äußerungen maßgeblicher AKP-Politiker erkennen kann. Noch 2002 war der damalige Parlamentsabgeordnete und jetzige Landwirtschaftsminister Faruk Çelik, der selbst aus Artvin stammt, noch gegen den Bau von Minen in seiner Heimatstadt. Heute hält er sich aus der Debatte heraus. Der Minister für Forst- und Wasserwirtschaft Veysel Eroğlu hingegen bezichtigt die Demonstranten der Lüge und spricht lediglich davon, „Lizenzen und Gutachten dahingehend zu prüfen, ob das Bauvorhaben Umweltauflagen genügt oder nicht“: „Die Behauptung die Mine würde der Umwelt schaden ist eine Lüge. Wir werden keinen Rückschritt machen“, so Eroğlu.
Premierminister Ahmet Davutoğlu hat heute eine Delegation, der auch Karahan angehört, empfangen. Nach dem Gespräch erklärte Davutoğlu, dass die Bauarbeiten vorerst unterbrochen werden, bis ein endgültiges Gerichtsurteil vorliegt. Im Gegensatz zu den Gezi-Protesten scheint die Regierung den Forderungen der Demonstranten zumindest Gehör zu schenken. Ob es sich dabei allerdings nur um eine kurzfristige taktische Maßnahme handelt wie beim Protestcamp im Gezi-Park, dem ebenfalls einige Tage Verschnaufpause von der Polizeigewalt gegönnt wurden, werden die kommenden Tage zeigen. Arif Cangı, Rechtsanwalt aus Artvın, sieht den Kompromiss als Erfolg des Widerstandes der Bevölkerung von Artvin, warnt aber vor voreiliger Freude: „Wir haben im Fall Cerattepe einen Etappensieg erzielt, können aber nicht von einem endgültigen Sieg sprechen. Wir müssen wachsam bleiben.“