Gesellschaft
Christen, Muslime und Juden als Verfechter der Demokratie
Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse ist der Meinung, dass man Menschen mit anderen Religionen respektieren solle. Dieser Anspruch gelte auch im Verhältnis zwischen Politik und Religionsgemeinschaften. (Foto: rtr)
SPD-Politiker Wolfgang Thierse hält Toleranz für eines der wichtigsten Fundamente demokratischer Gesellschaften. “Eine Gemeinschaft kann nicht funktionieren ohne den Respekt vor den Unterschieden”, schreibt Thierse in einem Gastbeitrag in der “Zeit” (Donnerstag). Dieser Anspruch gelte auch im Verhältnis zwischen Politik und Religionsgemeinschaften, so der langjährige Präsident und Vizepräsident des Bundestags. Der weltanschaulich neutrale Staat habe nicht über den Identitätskern einer Religionsgemeinschaft zu befinden. Umgekehrt seien kulturelle Eigenarten oder religiöse Praktiken nicht unantastbar. “Auch sie müssen abgewogen, die Gründe
gewichtet werden.”
Als Beispiel verwies Thierse, der auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ist, auf die Debatte zur Beschneidung muslimischer und jüdischer Jungen. Mit einem im Dezember 2012 verabschiedeten Gesetz hatten Bundesregierung und Bundestag die Beschneidung auf eine rechtliche Grundlage gestellt und damit dem
Erziehungsrecht der Eltern und der Religionsfreiheit Vorrang eingeräumt.
Im Zentrum habe die Frage gestanden, ob das Wohl des Menschen allein materielle Dimensionen oder auch geistige, geistliche und kulturelle Ebenen umfasse. Wer nur auf materielle Aspekte abhebe, “reduziert das volle Freiheitsrecht der Religion auf negative Religionsfreiheit und propagiert Säkularismus als staatlich verordnete Weltanschauung”, schreibt Thierse. Dies habe die Mehrheit der Parlamentarier nicht
gewollt.
Toleranz untereinander zeigen
Die durch solche politischen Entscheidungen geschützte Freiheit enthalte aber zugleich auch die Aufforderung an die Mitglieder von Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften, “aus dem Privaten herauszutreten und den Gemeinsinn mitzuformen”. “Wie der Staat des Grundgesetzes nicht alles selbst erledigen kann und will, lädt er dazu ein, dass die Bürger aus ihren Überzeugungen heraus und nach
gemeinsamen Regeln zusammenwirken, um über alle Unterschiede hinweg das soziale, kulturelle und politische Leben zu gestalten.” Christen, Juden und Muslime sollten daher besonders engagierte Verfechter der Demokratie sein.
Toleranz bezeichnete Thierse als “herbe” und “anstrengende” Tugend, die nicht verwechselt werden dürfe mit Desinteresse, Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit. Vielmehr gehe es um “die schwierige Verbindung von eigenem Wahrheitsanspruch mit der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs des anderen”. Dass es dabei immer wieder zu Interessengegensätzen komme, liege auf der Hand, so der Politiker. Gerade deswegen aber sollten sich Religionsgemeinschaften darum bemühen, “diese Konflikte zu befrieden, anstatt sie zu schüren”.
Er persönlich könne die Aufforderung zur Toleranz aus dem Evangelium heraus formulieren, erläuterte der Katholik Thierse. “Als Christ sehe ich die Botschaft des Evangeliums als tiefe Begründung für eine Gerechtigkeitspolitik, der es um die gleiche Würde jedes Menschen geht.” Zugleich biete das Evangelium Schutz vor einer um sich
greifenden wirtschaftlichen Verzweckung des Individuums. “Jeder Mensch ist ein Kind Gottes. Er ist mehr als Arbeitskraft und Konsument und Wähler.” (kna/dtj)