Politik
„Wir sind Kurden. Hat uns nicht auch Allah erschaffen?“
Tagelang herrschte in Cizre Ausnahmezustand. Verlässliche Informationen waren nur schwer zugänglich. Nun ist sie aufgehoben. Journalisten sind nun vor Ort und berichten.
Die achttägige Ausgangssperre in Cizre wurde ausgerechnet wenige Stunden vor dem Parteikongress der AKP aufgehoben.
Nach einer Woche heftiger Kämpfe und problematischer Wasser-, Nahrungs- und Stromversorgung, konnten die Menschen seit Samstag endlich wieder ihre Häuser verlassen. Nun hat das ganze Land die Möglichkeit zu sehen, was in Cizre wirklich vorgefallen ist. Kurz gesagt: das Bild ist verheerend. Die Viertel Nur und Cudi erinnern nach den Kämpfen an Syrien und Gaza.
Das Bild ist geprägt von durchlöcherten Gebäuden, verbrannten Häusern, Läden oder Wassertanks… Gruben, die ausgegraben wurden, um die Einfahrt der Polizei zu verhindern, Slogans an den Wänden wie „Diebe sind nicht erlaubt“ oder „Wir dulden keine Wucherei“, welche die Kontrolle der YDG-H über die Stadt demonstrieren sollen. In fast jeder Straße sieht man nicht ein oder zwei, sondern hunderte Patronenhülsen, oder Reste von Molotow-Cocktails oder anderen Sprengsätzen.
„Von welcher Zeitung sind Sie?“
Einem etwa 60-jährigen Mann bekunde ich meine Anteilnahme. Wir werden sofort von Jugendlichen umzingelt. Der Zorn ist groß. „Von welcher Zeitung sind Sie? Was werden Sie schreiben? Von nun an sind Türken nicht mehr meine Brüder. Eine Woche lang wurden wir unterdrückt und niemand hat dagegen seine Stimme erhoben.“ Der ältere Herr versucht die Jugendlichen zu beruhigen und erzählt: „Ja, wir sind Kurden. Na und? Hat uns nicht auch Allah erschaffen? Die Polizisten sagten am Abend durch den Lautsprecher, wir seien Armenier. Aber wir sind Muslime. Warum tun sie uns das an? Was will der Staat von uns? Schauen Sie, dort in der Straße hat man ein Haus durchlöchert. Dort sind drei Verletzte. Und in dem Haus daneben liegt seit zwei Tagen ein Leichnam.“
Ein Jugendlicher sagt: „Kommen Sie mit mir mit.“ Er bringt mich zu einem bedürftigen Haus. Vor dem Haus hat sich eine Menschenmenge versammelt. Wir gehen rein. Auf dem Boden liegen drei Personen mit eingewickelten Beinen. Vater Bahattin, sein Sohn Eşref und seine Schwiegertochter Bahar Erdi. Sie verletzten sich, als nachts um zwei ihr Haus beschossen wurde. Die verweinte Mutter zeigt verzweifelt auf die Hülsenspuren in den Fenstern, Wänden und im Bett. „Schauen Sie. Das ist das Schlafzimmer der Jüngeren. Es wurde beschossen. Was ist ihre Schuld? Es ist weder ein Arzt noch ein Krankenwagen vorhanden. Unsere Verwandten werden sie gleich mit ihrem eigenen Wagen zum Krankenhaus fahren.“
Während die Mutter spricht, muss ich daran denken, wie die Regierung und regierungsnahe Medien in den sozialen Medien mit großem Eifer dementierten, dass Verletzte nicht versorgt werden. 20 Meter weiter vom Haus der Erdis ist auch eine Menschenansammlung zu sehen. Das Wehgeschrei der Frauen ist deutlich zu hören. Ich frage einen etwa 20 Jahre jungen Mann, ob sie einen Toten beklagen. „Ja, mein Onkel. Er ist vor zwei Tagen auf das Dach gestiegen, als er hörte, dass die Wassertanks beschossen werden. Sie sagen, ein Scharfschütze habe ihn erschossen. Es war Ausgangssperre. Zwei Tage lag der Leichnam zuhause. Heute Morgen haben sie ihn ins Krankenhaus gebracht.“ „Gab es auch andere Leichen?“ „Ja, vielleicht neun oder zehn. Sie alle wurden erst heute Morgen in ein Krankenhaus gebracht.“
Aus der Straßenecke hört man die Stimme eines Mannes mit mittlerem Alter. Er spricht in einem TV-Interview: „Wir möchten keinen Tod. Weder das Volk Cizres, noch Soldaten, Polizisten oder Guerillas sollen sterben.“ Nur 1-2 Stunden nach dem Ende der Ausgangssperre und in einer äußerst aufgebrachten Atmosphäre symbolisieren diese Worte den noch immer vorhandenen Glauben an Frieden. Im Viertel Nur, wo Gruben ausgegraben, Barrikaden errichtet, Reifen verbrannt, eine Kuh von einer Kugel getroffen wurden, stehe ich vor einem zerstörten Laden. Ein Mann mit rund zehn Pässen versucht, sein Leid zu schildern: „Schauen Sie, dass sind die Pässe meiner Frau und meiner Kinder. Wir sind Bürger dieses Landes. Haben wir einen anderen Pass? Wo sollen wir hingehen? Mit diesem kleinen Kiosk verdiente ich den Unterhalt meiner Familie. Die Fenster sind kaputt, der Kühlschrank ist verbrannt und die Waren nicht mehr zu gebrauchen. Wie soll ich den Schaden begleichen? Wir haben tagelang nur Brot gegessen, weil wir nicht raus konnten. Wir hatten kein Wasser. Ich habe meinen Kindern Wasser vom Pool gegeben. Schreibt es auf. Schreibt bitte auf, was uns hier widerfährt.“
Menschen stehen Schlange – und Rede und Antwort
Die Leute stehen Schlange, um vom Erlebten berichten zu dürfen. Sie sind zornig und verzweifelt zugleich. Einer sagt: „Kommen Sie mit, ich zeige euch, welche Munition sie verwendet haben. Wir haben sie in den Straßen aufgesammelt. Ich habe auch meinen Militärdienst abgeleistet, aber konnte die meisten Hülsen nicht zuordnen. Eine hat die Wand eines Hauses in der Ecke durchlöchert. Eine andere hat das ganze Haus verkohlt.“ Wir fragen nach dem ausgebrannten Haus. Abidin empfängt uns dort. Ohne auf eine Frage zu warten legt er los: „Sie haben zuerst unser Haus durchsucht, unsere Privatsphäre verletzt. Als sie nichts finden konnten, sind sie gegangen. Gott sei Dank hatten wir das Haus zuvor ausgeräumt. Meine Tochter, Schwiegertochter, wir leben alle beisammen. Das ist das Haus. Schaut es euch selbst an.“
Das Haus war nahezu komplett verbrannt. In dem zweistöckigen Haus sind lediglich in einem Zimmer ein paar Kissen verschont geblieben. Der Rest ist komplett verkohlt. Abidin fügt hinzu: „In dem Haus sind auch zehn Korane verbrannt. Wir sind eine religiöse Familie, all meine Kinder rezitieren den Koran. Aber ihr seht…“ „Ich hörte Sie sind Blumenhändler. Kennt Sie die Polizei nicht? Was ist der Grund des Zorns?“, fragte ich. „Ich glaube nicht, dass es die in Cizre stationierten Polizisten waren. Die meisten sind Sonderkommandos und sollen aus anderen Orten hergekommen sein. Ich habe sogar gehört, dass diejenigen, die das Haus angezündet haben, untereinander Arabisch gesprochen haben. Ich habe nicht verstanden, was sie gesagt haben, aber sie sprachen Arabisch. So eine Grausamkeit kann doch nur der IS anrichten. Vielleicht haben diese Männer IS-Leute ausgenutzt. Denen traue ich alles zu.“
Bis vor kurzem kannte man das Viertel Nur als Hochburg der radikalislamischen HÜDA-PAR. Aber im Viertel leben auch viele gemäßigt-religiöse Menschen. Auf diesen Aspekt machte ein anderer Bewohner aus Cizre aufmerksam: „Cizre ist die Heimat vieler Heiliger. Hier gibt es hunderte Moscheen. Aufgrund der Ausgangssperre wurde der Gebetsruf tagelang nicht ausgerufen und das Freitagsgebet fand nicht statt. Stellt euch das vor. Erdoğan, der vor den Wahlen mit der kurdischen Übersetzung des Korans herumlief, hat den Gebetsruf untersagt. Das hat nicht Mal Inönü getan. Zu Inönüs Zeit war er nur auf Türkisch, aber selbst da wurde er ausgerufen. Zu Erdoğans Zeit überhaupt nicht.“