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Gesellschaft

Dantschke: Früher war ich gegen Religionsunterricht

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Die Extremismus-Expertin Claudia Dantschke referierte in Berlin bei der Stiftung für Dialog und Bildung. Nach ihrem Vortrag wird klar: Das Extremismus-Problem betrifft nicht nur die Muslime, bei der Gegenwehr müssen alle anpacken.

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Extremismus-Expertin Claudia Dantschke
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Die jüngste Syrien-Ausreisende stammt aus Bayern. Sie heißt Elif, ist 16 Jahre alt und in München aufgewachsen. Sie lebte weltlich, trug ein Zungen-Piercing, die Eltern waren nicht religiös. Doch jetzt ist sie wahrscheinlich in Syrien. Vater Atila sucht verzweifelt nach seiner Tochter.

Wie kommt es, dass ein in Bayern aufgewachsenes Mädchen sich für Salafisten begeistert, ins Kriegsgebiet nach Syrien ausreist? Hat uns der Geschichtsunterricht in der Schule die Gräuel des Krieges nicht genügend nahegebracht? Wenn Elif in einer streng religiösen Familie aufgewachsen wäre, hätten die Leitmedien ihren Schritt als Konsequenz ihrer religiösen Erziehung interpretiert. Warum aber geraten gerade „moderne“ junge Mädchen in die Fänge der Salafisten?

Für Claudia Dantschke, Extremismus-Expertin vom Zentrum für Demokratische Kultur in Berlin, sind diese Fälle nichts Ungewöhnliches. Sie hat bei der Stiftung für Dialog und Bildung in Berlin genau zu diesem Thema referiert. Vor einem kleinen Hörer-Kreis beleuchtete sie die Salafisten-Szene in Deutschland.

Salafisten mit serbisch-orthodoxem Hintergrund

Zugegeben, als sie vor drei Wochen referierte, war der Fall Elif noch nicht in der Presse. Aber nach ihrem Wissen stammten die jungen Leute, die in die Fänge des IS geraten, aus allen gesellschaftlichen Kreisen. Ja, sogar alevitische und serbisch-orthodoxe Familien seien dabei, die ihre Kinder an die Salafisten verloren hätten.

Ihren Ausführungen zufolge gibt es in Deutschland circa 7000 Salafisten. Um die 1000 von ihnen sind gewaltbereit. Wiederum 260 von ihnen werden als Gefährder eingestuft. Bislang sind nach offiziellen Quellen 650 nach Syrien ausgereist. Dantschke jedoch schätzt, die tatsächliche Zahl betrage wahrscheinlich zwischen 800 und 1000. Von den Syrien-Ausreisenden haben bislang 75 ihr Leben verloren, zehn von ihnen infolge von Selbstmord-Attentaten. Etwa 200 sind zurückgekehrt, 40 von ihnen mit Kampf-Erfahrung.

In Berlin gilt eine von acht Moscheen als Salafisten-nah

Erschreckend sind die Zahlen für die Bundeshauptstadt Berlin. An die 620 Salafisten leben dort, 330 von ihnen sind militant. 90 sind nach Syrien ausgereist, zehn gestorben und an die 30 zurückgekehrt. Besonders brisant: In Berlin gelten 12 Prozent der Moscheen als Salafisten-nah, d.h., in diesen gibt es Gesprächs-Kreise, die mehr oder minder mit der Salafisten-Szene Kontakt haben oder dorthin Kontakte herstellen. Drei Moscheen gelten als hoch bedenklich. Die Wahrscheinlichkeit ist also nicht gering, dass Jugendliche in eine solche Moschee geraten.

Aber wie geraten Jugendliche in die Fänge der Salafisten? Neben Moscheen spielt natürlich auch das Internet eine große Rolle. Für Dantschke spielt als Ursache die Suche nach Religion auch nicht die Hauptrolle. Es seien nicht so sehr die religiösen Fragen, die am Anfang entscheidend wären, sondern familiär-soziale und psychologische Fragen.

In vielen Fällen stammen die Jugendlichen aus kaputten Familien, oft ist der Vater nicht da. Die Jugendlichen suchen nach Anerkennung, Akzeptanz und Wertschätzung. Und wenn sie dann in der Mehrheitsgesellschaft Ablehnung oder Diskriminierung erfahren und in diesen Kreisen wertgeschätzt werden, können sie sich schwerlich den Vereinnahmungsversuchen widersetzen.

Religiöse Unwissenheit der Jugendlichen hilft Salafisten

Die religiöse Unwissenheit der Jugendlichen sei aber auch ein Faktor. Jugendliche betrachten Religion als Teil ihrer Identität, bezeichnen sich als Muslime, auch wenn sie nichts über den Islam wissen und diesen nicht praktizieren. Salafisten, die seit 2004 in Deutschland aktiv missionieren und seit 2008 Sozialarbeit (Streetworking) betreiben, docken bei Jugendlichen über Religion an.

Die Jugendlichen aber können religiös nicht argumentieren. Schritt für Schritt wird bei den Jugendlichen ein Schuldgefühl geweckt. Die salafistische Schwarz-Weiß-Ideologie – hier die guten (salafistischen) Muslime, dort die bösen und für die Hölle vorbestimmten Nicht-Salafisten und Nicht-Muslime – wird ihnen Schritt für Schritt eingetrichtert.

Nach Claudia Dantschke sind die Salafisten die besseren Straßenarbeiter, sie holen die Jugendlichen von der Straße weg. Sie holen sie gleichzeitig aber auch aus der freien Gesellschaft heraus und führen sie in eine totalitäre Ideologie ein. Bei manchen Jugendlichen spiele auch die Pubertät eine gewisse Rolle. Jugendliche begreifen die Salafisten als Möglichkeit für größtmögliche Provokation der Eltern oder ihres Lebensumfeldes.

Dantschke: Islam-Unterricht in der Schule könnte helfen

Und wie soll die Gesellschaft darauf antworten? Betrachtet man die betroffenen Familien, so sieht man, dass es nicht nur die Muslime betrifft. Von den möglichen Auswirkungen her ist es auch ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Mag Goethe noch gemeint haben, „wenn weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen“, könne man hier trotzdem am Fenster sein Gläschen austrinken, ist dies heute nicht mehr so. Heute ist auch Syrien nicht mehr weit entfernt. Wenn man sich die Faktoren anschaut, die eine Rolle spielen, so sieht man, dass man nicht mit einem eindimensionalen Problem konfrontiert ist.

Einen Ansatz sieht Dantschke im Religionsunterricht in der Schule. Als religiös völlig unmusikalischer Mensch wäre sie früher für eine strikte Laizität eingetreten, für eine völlige Trennung von Religion und Staat. Heute meine sie, ein Religionsunterricht in der Schule könne durchaus nützlich sein, sofern er nicht von oben herab und konfrontativ ausgerichtet wäre.