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„Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Rückkehr zur Religion”

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Die Suche nach dem Sinn des Lebens scheitert, wenn nur mit materiellen Mitteln argumentiert wird. Der türkische Intellektuelle Ali Bulaç vermisst die Metaphysik in der Wissenschaft, die kein Kriterium darstellen kann. (Foto: Zaman)

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„Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Rückkehr zur Religion”
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Herr Bulaç, im Vergleich zum vergangenen Jahrhundert begegnet man heute jenen Denkern immer seltener, die der Gedankenwelt und dem sozialen Leben in positivem oder negativem Sinne eine Richtung geben. Als türkischer Intellektueller sprechen Sie auch von einer Stagnation in Europa und stellen fest, dass auch die Sozialwissenschaften davon betroffen sind. Was können die möglichen Gründe dafür sein?

Ali Bulaç: Die Technologie und die technische Kultur haben heute alles überholt. Was die Technologie bestimmt, ist die Ökonomie, und diese wird wiederum von Interessen bestimmt. Vor allem die kapitalistische Weltsicht führt den Menschen dazu, grenzenlosen Gewinn anzustreben. Sie stellt ein weltliches Leben in den Vordergrund und der Mensch gerät in eine Situation, in der er an nichts anderes denken kann als sein körperliches und weltliches Vergnügen oder zumindest Wohlergehen. Das bedeutet für ihn aber auch eine gebrochene Verbindung zum Transzendentalen, Verborgenen hinter den Gegenständen und zum Jenseits. Die einzige Beschäftigung der globalen Weltlichkeit besteht darin, die Macht zu ergreifen.

Diese Macht hat eine ökonomische, politische und auch international agierende militärische Seite. Sie wirkt sich verhindernd auf die Intellektualität und Spiritualität aus. Ein anderer Grund besteht darin, wie die moderne Welt die Religion betrachtet. Die moderne Welt will nicht, dass Religion und Ethik Kriterien darstellen. Denn sie beschränken die Wünsche, aber auch die Bedürfnisse der Menschen. Aus diesem Grund werden sie nach außerhalb des Systems verbannt. Der Glaube beinhaltet eine Auffassung vom Sein. Wo sind wir hergekommen, wo gehen wir hin, was ist der Sinn des Lebens?

Der Glaube ist ein Feld, in dem diese Fragen ihre Antworten finden. Mit dem Ausschließen der Religion erleidet auch die Intellektualität einen Schlag. Der moderne Mensch beschäftigt sich gar nicht mit diesen Fragen und erniedrigt sich zu einem Organismus, der isst, trinkt, ausscheidet, schläft und sich paart. Da die Natur keine Leere aushalten kann, deckt er seine Bedürfnisse mit Fußball- und Sängerstars, bei Heavy-Metal-Konzerten, die vielmehr eine heidnische Kultur repräsentieren, in der die Intellektualität keine Rolle spielen kann. Der Säkularismus im Westen trägt den Nihilismus in die ganze Welt.

Was sind Ihre die Maßstäbe dafür, ein Intellektueller zu sein? Ein Echo im Gewissen der Gesamtheit hervorrufen, bei einer breiten Gemeinschaft Anklang finden… Könnten diese Aspekte als maßgebliche Kriterien bezeichnet werden?

Ali Bulaç: Ich mache einen Unterschied zwischen dem Intellektuellen und dem Aufklärenden. Intellektuell ist jemand, der Weisheit pflegt, In unserer Literatur gilt er als „arif”. Er ist derjenige, der im Zentrum seiner geistigen Aktivitäten sein Herz ansiedelt. Was den Aufklärenden angeht, so vertritt er die Ideologie des vergangenen Jahrhunderts. Er ist orthodox, steht in Verbindung mit dem Staat und ist daher eine Art Agent von ihm.

Der Aufklärer kann die Zukunft nicht sehen. Er will nur die Gesellschaft mit den Ideen des vergangenen Jahrhunderts aufklären, wobei er sich auch von der Aufklärung ernährt. Der Intellektuelle ist aber kritisch. Wenn wir die Gesellschaft mit einer Pyramide vergleichen, so steht der Aufklärer für die mittlere Schicht und der Intellektuelle steht ganz oben an der ersten Stelle. Er kann die Zukunft erahnen und fängt an, die Gesellschaft zu warnen. Er ruft somit Reaktionen hervor, da die Orthodoxie dagegen ist. Erst nach Ablauf einer Ära, zum Beispiel nach einem Jahrhundert, stellt es sich heraus, dass er Recht gehabt hat.

Die positiven Wissenschaften geben Wahrheiten, die nicht durch ihr Sieb gefiltert sind oder gefiltert werden können, keine Chance zum Überleben. Auch die Spezialisierung in irgendeinem Bereich erschwert einen ganzheitlichen Blick. Kann diese Autorität der positiven Wissenschaft, die für alle Wissensbereiche gilt, in Europa in diesem Zusammenhang in Frage gestellt werden? Was wären die möglichen Vorschläge für die Brechung dieses Monopols?

Ali Bulaç: Der Positivismus, der sich im Westen entwickelt hat, postuliert Folgendes: Was nicht wissenschaftlich nachweisbar ist, ist gleichzeitig auch nicht vernünftig. Was nicht wissenschaftlich ist, ist absurd. In unserem Glauben ist alles vernunftgemäß. So ist es zum Beispiel vernunftgemäß, dass Jesus ohne Vater erschaffen wurde. Aber der Positivismus sagt: Das ist absurd, wenn man es wissenschaftlich nicht erfassen kann. In diesem Zusammenhang hat der Westen die Funktion der Vernunft, vernünftig zu sein, abgeschafft, da er die Vernunft auf Wissenschaft beschränkt hat. Zum Beispiel kann die göttliche Offenbarung wissenschaftlich nicht erfasst werden.

Wir sehen ja nicht, dass der Erzengel Gabriel heruntersteigt. Das hat der Prophet gesehen. Da dies wissenschaftlich nicht bewiesen ist, wird angenommen, dass dies nicht vernünftig sein kann. Man muss zuallererst die Vernunft mit dem Glauben versöhnen. Nach unserer Überzeugung steht die Vernunft für das Auge, während die Offenbarung für das Licht steht. Das, was Allah Adam, Noah, Moses, Jesus und dem letzten Propheten offenbart hat, sind Erscheinungsformen des Lichtes.

Wie ein Mensch ohne Augen dieses Licht nicht sehen kann, so kann auch ein Mensch ohne Vernunft die Offenbarung nicht verstehen. Die beiden schaffen ein Ganzes. Die Aufklärung hat jedoch die Offenbarung, das heißt die Sonne, geleugnet. Sie hat behauptet, das Auge selbst würde Licht ausstrahlen und die Existenz beleuchten. Die positiven Wissenschaften stehen in Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Methode und diese Vorgehensweise hat den Wissenserwerb beschränkt. Sie hat sogar ein Monopol geschaffen, so dass heute das Wissen, das nicht mittels wissenschaftlicher Methode erworben wurde, nicht als wahres Wissen gelten kann.

Heute gliedern sich die Wissenschaften in mehr als 8.000 Bereiche. Das bedeutet gleichzeitig, dass unser Blick auf die Existenz als Ganzes durch diese Teilung zerbrochen ist. Jede Disziplin beharrt zunehmend auf ihrer Autonomie. Dann fängt sie an, zu behaupten, dass die Kenntnisse, die sie besitzt, wahrhaftiges, ja sogar absolutes Wissen wären. Obwohl versucht wird, eine interdisziplinäre Solidarität herzustellen, geht der Trend in diese Richtung.

Ein anderer Punkt ist, dass heute nicht die Intellektuellen, sondern die Experten der Welt die Richtung geben. Der Experte ist aber auch gleichzeitig nicht selten jemand, der die Welt aus einem Zustand der betriebsblinden Beschränktheit betrachtet. Er verliert den Wald aus den Augen, während er einen Baum betrachtet. Der Soziologe sieht alles mit den Augen eines Soziologen und verliert das Ganze aus den Augen. Für ihn scheint die ganze Welt nur aus Soziologie zu bestehen. Der Psychologe verliert ein soziologisches oder ökonomisches Phänomen aus den Augen. Das bringt wissenschaftliche Blindheit mit sich und hindert den Wissenschaftler daran, die Schöpfung als ein Ganzes wahrzunehmen.

Als die Psychologie als eigene Wissenschaft auftrat, bereinigte sie sich in einem ersten Schritt von Philosophie und Metaphysik. Danach eignete sie sich die Methoden von Biologie und Physik an. Als nächsten Schritt formulierte sie, dass Ereignisse in einem Laborumfeld erprobt werden sollen. Danach setzte sie voraus, dass Beweise mit der Sprache von Mathematik und Biologie zum Ausdruck gebracht werden sollen.

Können denn die seelische Welt und das subjektive Leben des Menschen mit den Methoden von Biologie und Physik verstanden werden? Natürlich ist das unmöglich. Auf der anderen Seite ist dies ein Zustand, aus dem der Westen sich nicht wird befreien können. Das wird erst dann möglich sein, wenn Europa auf seine kulturelle Orthodoxie verzichtet und sich selbst einmal auch mit kritischen Augen zu betrachten lernt. Dann wird es sein Bedürfnis nach Metaphysik wieder stärker spüren und zur Bibel zurückkehren.

Neue Denker, die wie der Heilige Augustinus, der Heilige Thomas oder Descartes in christlicher Bildung erzogen sind, werden in dieser Zeit auftauchen. Meiner Ansicht nach wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Rückkehr zur Religion sein. Entweder werden die Menschen auf diesem Planeten als Gattung Selbstmord begehen, oder sie werden sie sich dazu gezwungen fühlen, zur Religion zurückzukehren.

Herr Bulaç, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
 
Ali Bulaç stand für die Zeitschrift „Zukunft” für ein Interview zur Verfügung, das Arhan Kardaş führte. Das Interview entstand im Jahr 2007.