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Politik

„Das Boot ist voll“

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Die lange Ära Kohl (1982 bis 1998) wird in der Literatur der Migrationsgeschichte als „Abwehrphase“ bezeichnet. Bezeichnend für diese Zeit war die aktive Begrenzungs- und Abwehrpolitik gegenüber unerwünschten Zuwanderern. (Foto: dpa)

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„Das Boot ist voll“
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„Kohl wollte jeden zweiten Türken loswerden“ titelte der Spiegel am gestrigen Donnerstag unter Berufung auf britische Geheimprotokolle. Doch diese Informationen sind so geheim nicht. Warum sie dennoch ausgerechnet jetzt als geheim eingestuft werden, ist mir schleierhaft. Ob Medien wohl mit solchen spektakulären Enthüllungen das Sommerloch stopfen wollen, bleibt im Raume. Indessen dokumentieren einschlägige historische Werke zur Migration, wie Deutschland, Einwanderungsland (2002) von Karl-Heinz Meier-Braun, dass Kohl kurz vor seiner Kanzlerschaft sagte: „Die Zahl der türkischen Mitbürger muss vermindert werden“ und zwar unter dem Motto „Rückkehrbereitschaft stärken“. Diesem ging voraus, dass die Parteien mit dem C im Namen das Ausländerthema zwei Jahre lang erfolgreich zur Destabilisierung der damaligen SPD-Regierung einsetzten.

Schließlich leitete der unter Druck geratene Kanzler Helmut Schmidt einen Kurswechsel in der Ausländerpolitik ein und gab auf der Pressekonferenz am 11. November 1981 folgendes bekannt: „Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden. Einigkeit… bestand darüber, dass der Zuzug und die Nachführung von Familienangehörigen unter Anwendung aller rechtlichen Mittel im Rahmen des Grundgesetzes gestoppt werden soll.“ Da Ausländer zu sozialen und politischen Spannungen beitrugen und so den gesellschaftlichen Frieden gefährdeten, sollten nach einem internen Kabinettspapier „sämtliche Möglichkeiten, deren Realisierung einen geringen Anstieg der Ausländerzahlen als angenommen zur Folge hätten, ausgeschöpft werden“.

Indessen nahm der Druck auf die Regierung weiter zu. Die restriktive Ausländerpolitik, wie sie von der konservativen Opposition hofiert wurde, unterfütterten damalige Intellektuelle durch pseudowissenschaftliche Veröffentlichungen (Heidelberger Manifest 17. Juni 1981), in denen man sich gegen die „Unterwanderung des Deutschen Volkes durch Ausländer, gegen die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“ aussprach. Namhafte deutsche Zeitungen verbreiteten indessen den Eindruck, ein Zusammenleben mit außereuropäischen Ausländern sei auf Grund der hohen Ausländerkriminalität und der kulturellen Unvereinbarkeit nicht möglich. So trugen die Akteure ihren Teil zur Verfestigung der Ausländerfeindlichkeit bei.

Auch Golo Mann reihte sich ins Lager der Ausländergegner ein. Insbesondere gegen Türken hegte er eine besondere Abneigung, sie gehörten wegen ihrer „nichtintegrierbaren“ Kulturzugehörigkeit nicht ins Boot Deutschland. Inzwischen ist sein „Das Boot ist voll“ sprichwörtlich bekannt. Der Historiker Meier-Braun unterstreicht, dass Intellektuelle und Politiker so den Rechtsradikalen viele Argumente lieferten und Medien ihren Teil dazu beisteuerten. Parallelen zu den klassisch antisemitischen und rassistischen Argumentationssträngen fanden letztendlich in Brandanschlägen auf Unterkünfte von Türken, Afrikanern und Asiaten ihren Höhepunkt. 1982 schon zeigte die Überfremdungspropaganda seine Früchte. Ganze zwei Drittel der Bevölkerung – 1978 waren es noch 39% – befürworteten eine Rückkehr der Ausländer in ihre Heimatländer. Am 13. Oktober 1982 wurde die Ausländerpolitik schließlich als ein wichtiger Schwerpunkt in das Dringlichkeits-Programm der neuen konservativliberalen Regierung unter Kohl aufgenommen. Damit verzeichnete man eine eindeutige Kompetenzverlagerung von der Sozial- hin zur Ordnungspolitik (bzw. vom Bundesarbeitsministerium zum Bundesinnenministerium). Das Ziel war, die Zahl der Ausländer, insbesondere der Türken, zu verringern. Ihre Zahl sollte bis 1990 von damals 4,6 Millionen auf 2 bis 3 Millionen reduziert werden. Anders als geplant und gehofft sollte sich die Zahl der Ausländer sogar fast verdoppeln. In der Kohl-Ära von 1982 bis 1998 stieg die Anzahl der Ausländer von 4,6 auf 7,3 Millionen.

Aussiedlerkinder wurden als „Goldschatz“ betrachtet

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 überließen die anfänglichen euphorischen Momente wieder schnell der Alltagsrealität ihren Platz. Deutschstämmige Spätaussiedler aus Osteuropa kamen nach Deutschland. Die Aussiedlerkinder wurden im Gegensatz zu den belastend empfundenen Ausländerkindern als „Goldschatz“ bezeichnet. So wurden Aussiedler kurz nach ihrer Einreise eingebürgert und durch verschiedene sozialpolitische Maßnahmen „vorbildhaft“ in die Gesellschaft integriert.

1990 verabschiedete Wolfgang Schäuble, der damalige Bundesinnenminister, neben dem Aussiedleraufnahmegesetz auch ein neues Ausländergesetz. Für ausländische Jugendliche war der Erhalt der Staatsbürgerschaft sogar leichter geworden als der einer Aufenthaltsberechtigung. Allmählich stieg dementsprechend auch die Einbürgerungsrate unter der ausländischen Bevölkerung an. Doch die fiktive Vorstellung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, wurde auch hier wiederholt.

Schon ein Jahr nach der Wiedervereinigung nahmen die ausländerfeindlichen Übergriffe, besonders in der ehemaligen DDR, zu. Die Migrationsgeschichte zwischen 1981 und 1990 charakterisiert Klaus J. Bade als „das verlorene Jahrzehnt“, in der die Devise „Das Boot ist voll“ durchgehend ihre Gültigkeit hatte. In der Zeit von 1990-1998 hingegen überschatteten Asylkampagnen und Gewaltübergriffe auf Ausländer eine reale Sozialpolitik.

Die 50-jährige Migrationsgeschichte Deutschlands ist gespickt mit Anstrengungen, die Zahl der Ausländer zu verringern, die aber jeweils das Gegenteil bewirkten. So wollte man mit dem Rotationsprinzip den langen Aufenthalt der Gastarbeiter verringern. Dies scheiterte 1971 am Protest der Unternehmen, die darin eine ökonomische Ineffizienz sahen. Mit dem Anwerbestopp von 1973 sollte die Zahl der Gastarbeiter zurückgehen. Stattdessen stieg aber die tatsächliche Zahl der hiesigen Ausländer stetig an, da man den Nachzug von Familienangehörigen nicht berücksichtigte. Auch der Versuch der finanziellen Rückkehrförderung war nicht von Erfolg gekrönt. Der Versuch, durch restriktive Politik die Zahl der Ausländer zu verringern, schlug ebenfalls fehl. Das Schicksal machte jedes Mal einen Strich durch die Rechnung der Politiker. Zu guter Letzt meinte es das Schicksal nicht gut mit Helmut Kohl, dem es eine türkische Schwiegertochter schenkte. Wollte etwa die höhere Macht ihm damit ein hautnahes, lebenslanges Erlebnis der „nichtintegrierbaren“ türkischen Kultur bescheren?

Kohl verteidigt Äußerungen gegenüber Türken

Wie dem auch sei, Helmut Kohl hat sich inzwischen über sein Berliner Büro zu den Geheimdokumenten zu Wort gemeldet. Er stehe hinter seinen Äußerungen von damals, da diese ein Teil einer ohnehin großen Debatte zur Ausländerpolitik gewesen seien, doch weitere Stellungnahmen werde er nicht abgeben. Was man davon halten soll, bleibt im Dunkeln, vor allem, wenn zwielichtige Gestalten wie Thilo Sarrazin ihn für seine damaligen Aussagen loben.

Die 50-jährige Migrationsgeschichte Deutschlands wurde Zeuge, wie lange Zeit eine Politik vorbei an den Bedürfnissen und Interessen der Beteiligten betrieben wurde. Politik und Medien schneiden immer schlecht ab, sobald sie statt Tatsachen gewünschte Meinungen verbreiten und dabei mehr Probleme beschreiben, statt nachhaltige Lösungen zu bieten.

Autoreninfo: Musa Bağraç (geb. 1977 in Hamm/Westfalen) ist Studienrat für Sozialwissenschaften, Pädagogik und Praktische Philosophie an einem Gymnasium in NRW.