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DTJ-Blog

Das Gedicht von Goethe hat nun ein Gesicht: Afghanisch. Syrisch. Arabisch.

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Willkommen und Abschied heißt ein Gedicht. Das Gedicht von Goethe hat nun ein Gesicht.

Afghanisch. Syrisch. Arabisch.

So haben sie Abschied genommen von, wenn es sie denn überhaupt noch gibt, einem Vater und einer Mutter. Sie sind unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder. Sie sind gekommen im Winter. Auf dem Weg hier her hieß es nur: Immer schnell, immer voran, immer weiter. Überfüllte Boote betraten sie. Schwimmen und überleben. Nicht schwimmen und sterben! Ich wünschte, dieses Gedicht bliebe für mich, weiter ohne Gesicht. Denn so einfach ist es leider nicht. Wenn ein Gedicht einer besonderen Situation entspricht. Oder einem besonderen Gesicht.

Mittlerweile ist der Frühling da. Weder ich, in der Rolle der Lehrerin, noch sie wissen, wie lange wir zusammen an einem Tisch sitzen und gemeinsam essen und teilen werden. Alles ist so verdammt ungewiss! ‚Sei wie ein Baum! Lerne, dass, wenn die Zeit kommt, Deine Blätter fallen zu lassen!‘ Mawlana Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī, Meister der Denker und Dichter. Gibt es denn keinen Unterschied zwischen dem Blatt, der im Herbst vom Baum fällt und der Blüte, die im Frühling ihren Ast verlässt? Es gibt diesen Unterschied gewiss! Es muss ihn geben.

Täglich nehmen wir Abschied voneinander. Keine Zeit für eine Abschiedsfeier. Frei werden die Plätze, mal hier mal da. In sogenannte „internationale Klassen“ werden sie von einem Einsteigerkurs entlassen. Bald, ja sehr bald müssen sie ihre Geschichten verfassen! Über Dies und Das. Von Sehr Gut bis Ungenügend, ihren Aufsätzen wird man in roter Schrift Noten verpassen! „Kurze Einleitung, Hauptteil verfehlt und das Ende ist dir misslungen…“ Denen, die gehen, sage ich: „Schreibt immer mit Füller, mit Tinte! Mit blauer!“

„Lehrerin! Was ist das? Abschiedsfeier? Was gibt es an einem Abschied zu feiern?“ Lachen musste ich da. Sie hatten Recht. Ja. „Ein zusammengesetztes Namenswort: der Abschied + die Feier = die Abschiedsfeier!“ konnte ich nur antworten und das passte gerade auch zu unserem Thema! Vier von ihnen sind gegangen. So schenken sie diesem Abschied täglich ein Wiedersehen, in dem sie täglich zurückkommen, als seien sie nie gegangen. „Jeder Abschied ist ein Wiedersehen und jedes Wiedersehen ein Abschied!“ So hatte ich es mal an die Tafel geschrieben. Die Schüler drum gebeten, dies in ihre Hefte zu übernehmen.

Nun, seit gestern etwa weiß ich, weshalb sie gegangen sind. Das Gehen, einen Ort verlassen, schafft Raum für neue Begegnungen und neue Möglichkeiten. Dieses positive Feedback möchte ich lediglich teilen: „Welche Methode wenden sie an? Wir sind gekommen, um sie zu loben. Ihre Schüler sind vielen anderen Kindern an unserer Schule schon ziemlich voraus. Das haben sie wirklich gut gemacht!“ – „Danke. Wirklich Danke. Methode? Für einen Menschen, der ständig nach Rechtleitung sucht und bittet, gibt es keine Methode. Nicht einmal kochen tue ich nach einer Methode. Mein Herz gibt die Richtung an, ich folge ihm. So ändert sich meine Methode von einer Sekunde zur nächsten. Ich werde überrascht von ihm. Ein Stückchen Muskelfleisch auf meiner linken Hälfte; das ist meine Methode. Und da wohnen jetzt meine Schüler. Ich glaube, ich habe ihnen ein Haus zurückgegeben. Sie haben ihr Zuhause verloren. So weite Wege mussten sie gehen. Jetzt sind sie angekommen.“

„Schön. Haben sie denn keine Angst davor, ihr Herz dermaßen zu öffnen? Die sehen in Ihnen eine Bezugsperson? Ist das nicht schwer?“, werde ich gefragt.

„Zu ihrer Aussage, dass es schön sei: Das ist nicht schön. Ich wünschte, sie wären bei ihren Eltern geblieben. In ihren Häusern. Es gibt kein Zurück. Manche haben keine Eltern mehr, andere keine Häuser. Angst? Was bleibt uns übrig? Jetzt sind sie hier. Es geht um Folgendes: Wenn wir diese Kinder, für unser Land gewinnen wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen. Ihnen ganz genau erklären, wie sie wann zu handeln haben. Jede einzelne Situation müssen wir ihnen näher bringen. Nicht von oben herab. Nein. Auf Augenhöhe müssen wir mit ihnen reden. Wenn ich diese jungen Menschen sehe, bin ich keine Lehrerin. Ich bin Schülerin. Ich erlaube ihnen, mich zu belehren. Die Lebenserfahrung, die diese Kinder haben, habe ich nicht. Nicht den Willen. Nicht den Mut. Nicht ich, die sind gut. Wenn ich sehe, verwandele mich in ein anderes Wesen. Wenn sie mir diesen Erfolg zuschreiben, dann irren sie sich. Diese Kinder bringen das mit, was wir brauchen: Die Sehnsucht nach Frieden. Wir bemerken nicht einmal, dass wir in Frieden und Freiheit, in diesem schönen Land leben?! Unter einer Voraussetzung jedoch, wir dürfen keine Angst vor ihnen haben. Kennen Sie in Deutschland einen Jungen, der für 1,50 Euro Tagelohn gearbeitet hat? Kennen Sie einen 17-jährigen Jungen, der zum Schneider ausgebildet wurde? Kennen Sie einen 15-jährigen Jungen, der seine Familie versorgt? Wie gesagt, wenn wir diese Kinder für Deutschland gewinnen, dann sind sie eine Chance für uns, unsere gemeinsame Zukunft. Ich kann in der Hinsicht als Brücke dienen, denn ich kann ein wenig nachempfinden, was sie fühlen. Da biete ich mich, mein Herz und meine Seele an. Immer. Immer wieder.

Ich weiß, wovor die Deutschen, also Sie, Angst haben. Ich weiß, weshalb sie mich nach meiner Angst fragen. Ihnen kann ich die Angst nehmen und den Jungs damit Mut machen. Ja! Mit der Angst, die Sie haben, kann ich ihnen Mut machen. Dankbar bin ich Ihnen, dass sie bis hierhin gekommen und Interesse gezeigt haben. Wenn wir, mit „Wir“ meine ich besonders die mit einer Migrationsgeschichte unter uns, Verantwortung übernehmen, ihnen die Wege zeigen, die wir selbst mit Mühe und Not bestritten haben, dann werden wir diese Kinder gewinnen! Wie? Mit ganz einfachen Sätzen wie: ‚Ja. Ich musste mal in die Hose machen, weil ich nicht sagen konnte: Ich muss Pipi! Und jetzt? Schaut mal! Jetzt stehe ich hier!'“

Liebt Kafka und Goethe genauso wie Rumi! Zum Schluss möchte ich Goethe, den Meister der Denker, wieder zitieren.

„…Umsausten schauerlich mein Ohr

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer

Doch frisch und fröhlich war mein Mut

In meinen Adern welches Feuer

In meinem Herzen welche Glut!“

(Aus Willkommen und Abschied)

In der Hoffnung, dass wir es schaffen, miteinander zu sprechen, statt übereinander. Es lohnt sich; kleine oder große Schritte, wirklich jeder! Nur, wenn wir erstarren und stehenbleiben, vor lauter Angst in Ohnmacht fallen, nicht auf den anderen zugehen, bleiben wir uns selbst, ein Fremder! Und: Wirklich, nicht ich bin gut, sondern meine Schüler.