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Kolumnen

Türken in Deutschland: Keiner will dem anderen den Preis der Tomate verraten

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Der Ruf nach der Einheit der türkischen Community in Deutschland ist groß. Aber in der Praxis treibt die Community selbst ihre Spaltung voran. Dabei ist die Lösung ganz einfach: Verratet endlich den Preis der Tomate.

2007 wurde ich eingeladen, auf der Lebensmittel-Messe ANUGA einen Vortrag zu halten. Man bat mich um meine Einschätzung, wie groß die Chance ist, dass aus einem Onkel-Mehmet-Laden (als das deutsche Gegenstück zum Tante-Emma-Laden) einmal eine Einzelhandelskette wie ALDI oder EDEKA werden könnte.

Die Schwierigkeit, eine Einkaufsgenossenschaft zu gründen

Um die Frage beantworten zu können, habe ich mit sieben Inhabern von Onkel-Mehmet-Läden in Krefeld und Duisburg ein leitfadengestütztes Interview durchgeführt. Indem ich fragte, wie viele Mitarbeiter und Azubis sie haben, wie viele Filialen sie besitzen, welche Ausbildung sie selber haben, wie groß der Anteil von türkischen und deutschen Kunden ist und ob sie Mitglied in Vereinen oder Verbänden sind, wollte ich einerseits „typische“ Profile von den Inhabern ermitteln, andererseits einschätzen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie in der Zukunft mit ihrem Geschäft expandieren.

Bei diesen Gesprächen habe ich sehr viel über die Gründungsgeschichte der Unternehmen erfahren, über ihre Schwierigkeiten aber auch Erfolge und über die Zusammenarbeit mit anderen Geschäftsinhabern, die auf derselben Straße ihre Geschäfte hatten.

Daraufhin fragte ich, ob denn die Geschäftsinhaber nicht auf die Idee kämen, gemeinsam eine Einkaufsgenossenschaft zu gründen, um günstiger an die Waren zu kommen und so die Gewinnmarge zu erhöhen. Schließlich kosten zehn Kisten Tomaten pro Kiste mehr als 100 Kisten. Eine Zusammenarbeit war doch naheliegend, dachte ich.

Zwischen Wettbewerbsvorteil und Schmach

Alle betroffenen Geschäftsinhaber, ich kann mich an die Gesichter noch sehr gut erinnern, wurden ernst bei dieser Frage. Wie es sich herausstellte gab es mehrere Versuche, eine solche Genossenschaft zu gründen, aber es habe nicht geklappt. Woran ist es denn gescheitert? Alle waren der Ansicht, dass eine solche Zusammenarbeit sinnvoll sei, „aber es ist am Preis der Tomate gescheitert“, so ein Interviewpartner, dessen Version von den anderen bestätigt wurde.

Um eine solche Zusammenarbeit zu eröffnen, führte man den Vorschlag ein, dass jeder zunächst – als Vertrauensbeweis – den Einkaufspreis für seine Tomaten offen legen soll. Der erste Anlauf hat nicht funktioniert. Der Zweite auch nicht. Der Dritte endete wohl in einem Fiasko. Ich fragte, was denn so schlimm sei, wenn man den Preis für seine Tomaten verrät. Ich konnte es mir nämlich nicht erklären, was daran Bedeutendes sein soll.

Alle Geschäftsinhaber haben die Tomaten vom selben Zwischenhändler bezogen. Jeder hat mit ihm eine Preisspanne abgemacht. Sie befürchteten Nachteile und den Verlust ihres Wettbewerbsvorteils. Wenn einer der Auffassung war, dass er einen sehr günstigen Preis für die Tomaten bezahlt, dann ging er davon aus, dass seine Konkurrenten zum selben Zwischenhändler rennen werden, um von ihm Rechenschaft zu verlangen, warum bei dem oder jenem einen so guten Preis macht. Er möchte diesen Preis jetzt auch.

Auf meine Erwiderung, niemand in der Runde hätte wissen können, dass er für seine Tomaten den günstigsten Preis bezahlt, wies ein anderer Inhaber darauf hin, dass es auch die andere Seite der Medaille gibt. Es wäre eine Schmach für denjenigen gewesen, bei dem sich herausgestellt hätte, dass er viel zu viel für die Tomaten bezahlt. Er wäre sozusagen ein Idiot gewesen.

Gesegnet sind die Unwissenden

Nichts wissen war also wertvoller als Transparenz und Wissen. Ich dachte nur, dass das Marktverhalten dieser Inhaber nicht nur wahnsinnig ist, sondern auch selbstmörderisch.

Stellen Sie sich ein normales Fußballspiel vor. Auf jeder Hälfte des Spielfelds stehen elf Spieler, die eine Mannschaft repräsentieren. Jetzt stellen Sie sich bitte vor, dass die Spieler einer Mannschaft Augenbinden haben. Sie wissen nicht, wo sie sich auf dem Spielfeld befinden, sie wissen nicht, welche Aufgabe sie auf dem Spielfeld haben, und sie wissen nicht, zu wem sie den Ball zuspielen können, sofern sie wüssten, wo der Ball sich befindet, was sie nicht wissen können, weil sie ja Augenbinden tragen.

Manipulieren, sabotieren und missbrauchen

Die gegnerische Mannschaft ist nicht nur weitaus überlegen und kann mit Leichtigkeit Tore schießen. Sie ist auch in der Lage, die Mannschaft mit den Augenbinden zu manipulieren. Sie können einzelnen Spielern alles erzählen, was sie wollen, der Spieler müsste an diese Geschichte glauben. Denn der andere kann ja sehen, was er und seine Spielkameraden ja nicht können. So kann eine Mannschaft eine andere Mannschaft manipulieren, sabotieren und nach Belieben beeinflussen.

Irgendwann fangen die Spieler mit den Augenbinden an sich gegenseitig zu beschimpfen. Wieso nur könne die andere Mannschaft besser spielen als sie und auch noch Tore schießen? Es gebe keine Einheit in dieser Mannschaft, wird man vielleicht rufen. Manche werden die Seite wechseln wollen. Andere möchten das Spielfeld verlassen. Kommt ihnen das bekannt vor!?

Wenn Sie glauben, dass diese Beschreibung nur auf die Onkel-Mehmet-Ladeninhaber zutrifft, dann irren sie sich. Das ist die aktuelle Situation der türkischen Community in Deutschland. Schauen Sie sich unsere zivilgesellschaftlichen Verbände an. Keiner will dem anderen den Preis der Tomate verraten!

Eine türkische Einzelhandelskette ist nicht absehbar

Damals, 2007, auf der ANUGA Messe habe ich die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass aus einem Onkel-Mehmet-Laden in der Zukunft eine Einzelhandelskette werden könnte, folgendermaßen beantwortet:

Die Wahrscheinlichkeit für diese Entwicklung ist sehr gering. Auf der Grundlage meiner kurzen Untersuchung wird es einige wenige Einzelhändler geben, die aufgrund ihrer Bildung, Qualifikation, Personalmanagement und Organisation in Verbänden schaffen werden, ihr Geschäft um weitere Filialen auszubauen. Diese Filialketten werden sich aber innerhalb einer Region befinden. Eine bundesweite Einzelhandelskette ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Geschäftsinhaber werden es über das eigene Geschäft nicht hinaus schaffen.

Im zweiten Teil erfahren Sie, welche soziologische Theorie hinter den „blinden Spielern“ steckt.

Kamuran Sezer, Jg. 1978, ist Trend- und Zukunftsforscher. Mit seinem futureorg Institut berät und forscht er zum Wandel in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Weitere Informationen unter www.kamuran-sezer.com