Politik
Das Präsidialsystem: Geht es Erdoğan wirklich um die Errichtung einer Diktatur?
Der Türkei steht vor einer der wichtigsten Entscheidungen ihrer jüngeren Geschichte: Am 16. April stimmt sie über eine umfassende Verfassungsreform ab, die Staatspräsident Erdoğan umfassende Macht verleihen soll. Gegner der Reform befürchten, dass das Land damit endgültig zur Diktatur wird. Doch es geht um noch mehr: Mit der Verfassungsreform würde auch die endgültige Abkehr der Türkei von Europa besiegelt.
KOMMENTAR Erdoğans Reden lassen derzeit erahnen, dass er sein Volk auf eine neue Ära vorbereiten will. Das von ihm angestrebte Präsidialsystem würde ihm beinahe uneingeschränkte Entscheidungsbefugnisse geben und ist die Macht erst einmal gesichert, kann er noch härter gegen die Opposition vorgehen, Minister aus dem Amt entlassen und wenn er möchte, sogar in den Krieg ziehen – ohne Abstimmung oder Absegnung. Ein Präsidialsystem beziehungsweise ein präsidentielles Regierungssystem gibt es in vielen Ländern, so in den USA oder Frankreich. Das heißt aber nicht, dass es sich des Namens wegen um die gleichen Systeme handelt wie das, das jetzt in der Türkei auf der Agenda steht. Abgesehen vom Krieg mit Syrien würde seine Durchsetzung in der derzeitigen Türkei zu einer Reihe an Maßnahmen führen, die das Land zurück ins Mittelalter katapultieren und potenzielle Kriege begünstigen würden.
Geht es auf nationaler Ebene um uneingeschränkte Macht, die die Implementierung eines Staatsmodells ermöglicht, das keine demokratische Anteilnahme mehr duldet? Anders gefragt: Geht um die Implementierung einer Diktatur, die auf dem Rücken der Demokratie ausgetragen wird, und bei der Patriotismus und Religion Pate stehen?
Die Gegenstimmen der Opposition sind laut. Der HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der seit November im Gefängnis sitzt, hatte im Oktober vor der Einführung der neuen Regierungsform gewarnt. Denn mit dem Präsidialsystem könne Erdoğan schalten und walten wie er möchte. Bei der derzeitigen Lage wäre das fatal. Denn bereits ohne diese Befugnisse agiert Erdoğan wie es ihm gefällt. Man kann ihm noch nicht einmal vorwerfen, dass er gegen die Regeln verstoßen würde. Denn der Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch bereits zweimal verlängert wurde, ermöglicht es ihm, gegen sämtliche Regierungsgegner im Lande vorzugehen.
Erdoğan lehnt sich weit aus dem Fenster und riskiert damit nicht nur im Lande einen Bürgerkrieg, sondern auch auf internationaler Ebene Konflikte, die im schlimmsten Fall zu Kriegssituationen führen können.
Doch er bewegt sich auf dünnem Eis. Denn einerseits führt er „Krieg gegen den Terrorismus“, andererseits wendet er sich von der EU ab und droht ihr sogar, die Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen. Dabei sollte es ihm vor allem um die Ausbalancierung der Machtverhältnisse auf internationaler Ebene gehen: Die Türkei war bislang aufgrund ihrer geostrategisch günstigen Lage für andere Staaten der ideale militärische Stützpunkt und das Einfallstor zum Nahen Osten und zum Kaukasus (und damit damals noch zur Sowjetunion). Doch nun steht sie nicht mehr nur auf der Kippe, sondern auf Messers Schneide.
Die Türkei führt das erste Mal seit Gründung der türkischen Republik einen Mehrfrontenkrieg, wie Prof. Dr. Baskın Oran, Politikwissenschaftler und Dozent an der Universität Ankara, erklärt. Als Pufferstaat zwischen dem Westen, dem Nahen Osten und Russland, aber mit begrenzten Spielmöglichkeiten auf dem globalen Spielfeld ist dies ein riskantes Unterfangen. Denn die Türkei ist sowohl auf die Kooperation mit anderen Nationen als auch auf innere Stabilität angewiesen. Laut Oran ist die Türkei ein „mittelgroßes Land“, das strategisch handeln sollte. Das heißt, es ist nicht bestrebt, die Dominanz in der Region anzustreben sondern vielmehr die Balance mit anderen Staaten im Nahen Osten zu halten. Daraus resultierend ist es vorteilhaft, sich nicht mit den Nachbarstaaten, und schon gar nicht mit mehreren Nachbarstaaten gleichzeitig, anzulegen, so Oran gegenüber der Tageszeitung Cumhuriyet.
Von „Westernization“ keine Rede mehr
Der Mann, der sich noch bis 2012 aktiv um einen Beitritt in die EU bemüht hatte und sich sowohl auf dem inländischen als auch dem internationalen Parkett moderat gab, hat sich spätestens seit den Gezi-Protesten als sichtbarer Hardliner entpuppt, der eines will: Macht in einem Land, in dem islamische Regeln und damit auch die Scharia und die Todesstrafe gelten. Die Entwicklungen deuten darauf hin. Jedes mal, wenn sich Anschläge ereignen, nutzt Erdoğan die Gunst der Stunde und setzt neue Maßnahmen, Gesetze und Regelungen auf allen Ebenen durch, die im zum Vorteil beim Ausbau seines Wunschstaates dienen.
Besonders seit der Ausrufung des bis heute gültigen Ausnahmezustands im Juli häufen sich drastische Säuberungswellen, Beschlagnahmungen, Schließungen regierungskritischer Institutionen und Redaktionen. Viele Posten und Schlüsselpositionen in Politik, Justiz, Verwaltung, Sicherheitskräften, Kultur und Bildungswesen werden von der Partei systematisch mit regierungstreuen Akteuren neu besetzt.
Sie sollen die Wegbereiter einer neuen Ära werden, in der Erdoğan uneingeschränkt und so lang wie möglich an der Macht bleibt. In dieser neuen Ära soll eine neue Generation herangezogen werden, die „ohne Wimpernzucken imstande sein wird, mit wedelnden Fahnen die Nation zu verteidigen wenn wir sie dazu aufrufen“, wie es der Bildungsminister Ismet Yılmaz ausrief.
Erdoğan scheint längst mit der EU abgeschlossen zu haben
Der Kurs scheint klar. Weniger Bemühungen um die Menschenrechte, die spätestens seit den Gezi-Protesten auf ein Minimum geschrumpft sind, mehr Kontrolle über Parteigegner, unbefugte Inhaftierung von Regierungsgegnern, insbesondere von Journalisten, die mit unfairen Prozessen, oder auch gar keinen, einhergehen. Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe steht auf der To-Do-Liste. Diese wird dann, sobald das Präsidialsystem endgültig durchgewunken wird, sicherlich als erste Aufgabe abgearbeitet werden.
Alles Praktiken und Methoden, die gegen die EU-Normen verstoßen. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier drohte, wenn die Todesstrafe wiedereingeführt werden solle, würden die Beitrittsverhandlungen mit der EU gänzlich abgebrochen werden. Zu dumm nur, dass da noch das Flüchtlingsabkommen ist, das Ass im Ärmel der türkischen Regierung.
Erdoğan scheint längst mit der EU abgeschlossen zu haben, zumal das EU-Parlament im November das „Einfrieren“ der EU-Verhandlungen empfohlen hat. Nach über 50 Jahre andauernden Bemühungen, vollwertiges Mitglied Europas zu werden (zuerst durch das Assoziationsabkommen mit der EWG, dann durch das Wirtschaftsabkommen mit der EG und zuletzt die privilegierte Mitgliedschaft der EU) ist die Luft raus. Auflagen, Bestimmungen, erneute Forderungen, die sich mit jeder Verhandlung häuften, ließen die Türkei immer wieder an den Pforten der EU zerschellen. Österreich als größter Skeptiker des Beitritts, drängte sogar darauf, dass auch wenn die Auflagen erfüllt seien, schließlich die wirtschaftliche und politische Lage entscheidend für die Aufnahme der Türkei sei.
Auch wenn sich viele EU-Mitglieder grundsätzlich für einen Beitritt ausgesprochen haben, fühlt sich nicht nur die türkische Regierung sondern auch viele Menschen im Lande nicht mehr von der EU nicht ernst genommen. Die EU hingegen pocht auf Einhaltung und Erfüllung von Regelungen, die ihren Normen entsprechen, wie die Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit.
Erdoğan selbst scheint dies dennoch nicht zu stören. Denn die Gleise wurden bereits vor Jahren dementsprechend gestellt: Die Abkehr vom Westen hat die intensivierte Orientierung zum Nahen Osten, aber auch zu Russland, ermöglicht.
Der bislang „moderne“ Staat macht damit einen Schritt, der das eigene Volk übergeht und es noch viel mehr instrumentalisiert und einschüchtert.
Trotz der gespaltenen Meinungen im Volk, ob der Beitritt in die EU seitens der Türken selbst erwünscht ist oder nicht, war eine Abschirmung von Europa (die übrigens von beiden Seiten geführt wird und nicht von der Türkei selbst initiiert wurde) nicht in dem Ausmaß erwünscht. Immerhin galt die Türkei als modernes, fortgeschrittenes Land inmitten der meist autoritären Nachbarländer. Nun orientiert sich das Land um, sowohl in seiner geostrategischen und politischen Ausrichtung, indem es sich von der EU abwendet und neue Bündnispartner sucht, als auch in seiner gesellschaftlich-politischen Identität, indem es sich von demokratischen Werten abwendet und sich immer mehr hin zu einem islamistisch-autoritären Staatsmodell entwickelt.