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Politik

Das System des „Zehn-Prozent-Tayyip“

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In seinem Buch „Zehn Prozent“ beschreibt der Journalist Ahmet Dönmez, wie Recep Tayyip Erdoğan und seine Mitstreiter durch eine Methode systematischer Korruption bereits vor 20 Jahren den Grundstein für ihre heutigen Macht gelegt haben.

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Ahmet Dönmez
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„Yüzde On“ – zehn Prozent: Das ist nicht nur die ungewöhnlich hohe Wahlhürde in der Türkei, sondern auch der Name der Formel, mit der Recep Tayyip Erdoğan und seine Mitstreiter ihre Machtbasis schufen.

Ahmet Dönmez, Journalist der Tageszeitung Zaman, schildert in seinem im November 2014 erschienenen Buch „Zehn Prozent. Vom gerechten System zum Pool-System“ („Yüzde On. Adil Düzenden Havuz Düzenine“, Klas 2014), wie Recep Tayyip Erdoğan über all die Jahre hinweg die Basis für seine Macht schuf.

Dass das Buch einen empfindlichen Nerv getroffen hat, zeigt allein schon der Umstand, dass AKP-Politiker Binali Yıldırım darauf reagiert hat, indem er versuchte es per Gerichtsbeschluss einziehen zu lassen und eine Razzia bei Dönmez verlangte. Tweets, die das Buch lobten, ließ man per Gerichtsbeschluss verfolgen.

Was macht das Buch so brisant?

Der Autor legt dar, wie Recep Tayyip Erdoğan bereits 1994, als er Bürgermeister von Istanbul wurde, mit der Grundsteinlegung für seine heutige Herrschaft begonnen hat. Er habe schon zu dieser Zeit zusammen mit seinen Mitstreitern überlegt, wie sie in der Türkei an die Macht gelangen könnten. Dort wollten sie nicht nur hinkommen, sondern auch bleiben. Dazu mussten sie aber finanziell so mächtig werden wie die Schicht der säkularen, kemalistischen Türken, die das Land beherrschte. Deshalb hätten sie sich ein System ausgedacht.

So haben sie laut Dönmez damit begonnen, von allen staatlichen Aufträgen in ihrem Zuständigkeitsbereich einen gewissen Anteil für sich abzuzweigen und zur Seite zu legen. Ahmet Dönmez dazu: „Natürlich konnten von einigen öffentlichen Aufträgen von Zeit zu Zeit 15 oder gar 20 Prozent eingenommen werden, manchmal aber auch gar nichts. Der Titel ‚Zehn Prozent‘ steht für ein System.“

Der Theologe, der Korruption islamisch legitimiert

Dass das Ganze nicht legal und auch islamisch nicht ohne Weiteres zu legitimieren ist, wussten die Eingeweihten natürlich. Schließlich handelte es sich um öffentliche Aufträge, öffentliche Gelder, die zugunsten einer bestimmten Ideologie und Menschengruppe zweckentfremdet wurden. Wie Ahmet Dönmez schreibt kamen ihnen in dieser Zeit die Fatwas des türkischen Theologen Hayrettin Karaman sehr gelegen.

Heute schreibt Karaman Kommentare in der regierungsnahen Zeitung Yeni Şafak, sein Sohn Muhammet İhsan Karaman wurde von Erdoğan im vergangenen Dezember zum Rektor der Medeniyet Universität in Istanbul berufen.

Wie hat Karaman die Zehn-Prozent-Praxis legitimiert?

Unter anderem mit dem Begriff der Notwendigkeit, auf Türkisch ’ıztırar’ oder ’zaruret hali’. Dönmez zitiert Karaman mit den Worten: „Wenn die Bedingungen, in denen wir uns befinden, auf dem Weg zum Islam die Benutzung eines Mittels als notwendig erscheinen lassen, so nutzen wir dies. Wenn diese Mittel uns unserem Ziel näher bringen, uns Türen öffnen, so nutzen wir dies notgedrungen. Die Not macht die Benutzung dieser Mittel legitim.“

Durch solche Fatwas und theologische Ausführungen habe man auch Korruption im Namen der Religion als notwendig erachtet. Mit dieser Formel wurde aus der Korruption etwas Legitimes, der Zweck heiligte die Mittel.

Wer mitmacht, bekommt Aufträge

Und wie genau fand dieses System Anwendung? Laut Dönmez habe man für die Ausschreibungen Unternehmen gesucht, die für die Vorgehensweise geeignet erschienen. Wenn diese Unternehmen nicht gefunden wurden, so wurden neue gegründet. Die Ausschreibungen wurden derart gestaltet, ihre Bedingungen so geregelt, dass sie für eine vorher festgelegte Firma wie angegossen passten. Nachdem das Unternehmen die Ausschreibung bekommen hat, bittet man es zur Kasse. Diese Gelder wurden dann auf verschiedenen Konten aufbewahrt oder in Vereinen oder Stiftungen, die bei Bedarf ebenfalls neu gegründet wurden, gelagert.

Ahmet Dönmez behauptet, dass der Leiter einer Filiale einer öffentlichen Bank, bei der ein Teil der Gelder aufbewahrt wurde, nach Recep Tayyip Erdoğans Wahl zum Premierminister von ihm zum Chef seiner sogenannten ’Schwarzen Kasse’, des Reptilienfonds, ernannt wurde.

Recep Tayyip Erdoğan habe also zusammen mit seinen Mitstreitern seit 1994 die finanzielle Basis für seinen Machterhalt durch das Anzapfen staatlicher Ausschreibungen, durch NGOs, Vereine und Stiftungen sowie den Aufbau einer Medienmacht systematisch vorbereitet. Als die Korruptionsaffäre vom 17. Dezember 2014 zutage trat, sei er einer der wenigen gewesen, die sich nicht gewundert hätten, beteuert Dönmez. Denn: „Ich begann meine journalistische Karriere im Jahr 2000 als Lokalredakteur in Istanbul. Von den 10-Prozent-Anteilen und dem Pool–System habe ich schon damals erfahren. Schon da begann die geistige Vorbereitung für das Buch.“

Korruptionsaffäre zerrt das System in die Öffentlichkeit

Und was hat Binali Yıldırım damit zu tun?

Als die Korruptionsaffäre zutage trat, wurde auch bekannt, dass die Mediengruppe Turkuvaz mit den Fernsehsendern ATV und A Haber sowie den Zeitungen Sabah und Takvim an ein neu gegründetes Unternehmen namens Zirve A.Ş. verkauft wurde. Dieses war 2013 gegründet worden und besaß ein Kapital von 380 Millionen Lira.

Die Turkuvaz-Gruppe wurde für 630 Millionen Dollar verkauft. Das Geld stammte von Unternehmern, die unter der AKP-Regierung Staatsaufträge bekamen und nun ihren „Anteil“ zu leisten hatten. Zu ihnen werden Namen wie der Bauunternehmer Mehmet Cengiz, Nihat Özdemir und Celal Koloğlu gezählt. Den Verkauf koordiniert habe der damalige Minister für Transport, Seewesen und Telekommunikation und langjährige Gefährte Erdoğans Binali Yıldırım.

Heute hat Erdoğan eine große Medienmacht im Rücken. Nicht nur private Zeitungen und TV-Sender betreiben AKP-konforme Berichterstattung, auch die staatliche Sendeanstalt TRT ist voll auf AKP-Linie, genauso die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı (AA). Mehr noch: Wegen des Drucks, der auf die freie Presse ausgeübt wird, wagen nur wenige Zeitungen, die AKP zu kritisieren.

„Mein ganzes Vermögen besteht aus diesem Ring“

Dönmez beschreibt die Folgen dieser Praxis folgendermaßen: „Recep Tayyip Erdoğan wurde sogar innerhalb der Partei dermaßen mit dem System identifiziert, dass er ’Zehn-Prozent-Tayyip’ genannt wurde. Dieser Pool, in dem die 10-Prozent-Anteile zusammenkamen, wuchs mit der Zeit zu einem See, trat über die Ufer und hat alles fortgespült, was zur türkischen Politik gehörte. (..) Folglich ist das, was heute die ‚Neue Türkei‘ genannt wird, eigentlich eine Pool-Republik, Erdoğans Pool-Republik.“

Dabei fing Erdoğan selbst einst ganz klein an. Er war der erste Politiker, dem Necmettin Erbakan, der Urvater der türkischen Islamisten, einen Lohn auszahlen ließ, damit er sich ganz der Parteiarbeit in Istanbul widmen konnte. Seine Kinder studierten mit Stipendien, die befreundete Unternehmer finanzierten. Als er 1994 Kandidat für das Bürgermeisteramt in Istanbul war, hielt Erdogan beim Besuch einer Bilder-Ausstellung einen Ring in die Luft und rief: „Das ist alles, woraus mein gesamtes Vermögen besteht.“

Karaman bleibt sich treu

Das alles liegt mittlerweile weit zurück. Blicken wir in die Zukunft:

Der Theologe Hayrettin Karaman schreibt weiter für die Yeni Şafak. In seiner Kolumne vom 13. September 2015 beklagte er sich unter der Überschrift „Einheit und die Feinde der Ruhe“ über die Oppositionsparteien, die nach dem Aufflammen der Gewalt im Südosten des Landes statt der PKK die AKP-Regierung kritisierten und stellte fest: „Parteien sind Einrichtungen, die uns die Praxis westlicher Demokratien als Geißel geschickt hat.“ Eine sehr vielsagende Schlussfolgerung, wenn man sich Erdoğans Ambitionen auf ein Präsidialsystem anschaut. Karaman weiß offensichtlich immer noch, wie er den Islam interpretieren muss, damit seine mächtigen Freunde mit ihm zufrieden sind.