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Politik

Das System Erdoğan – und die Ordnung danach?

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Der Druck auf Medien und Oppositionelle in der Türkei nimmt zu. Doch wie reagieren die verschiedenen Lager? Kann es eine Basis für eine lagerübergreifende Solidarität geben? Einiges deutet daraufhin.

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Bugün
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In der türkischen Gesellschaft gibt es Lager, die einander feindlich gesinnt sind und sich auch in Fragen der Grundrechte nicht füreinander einsetzen. Der Gesellschaft fehlt es an einem Konsens bezüglich demokratischer Werte. Die Grundlage hierfür wäre eine zivile Verfassung, in der sich sowohl der einzelne als Bürger als auch relevante gesellschaftliche Gruppen wiederfinden. Die aktuelle Verfassung kann diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie ist 1982 von den Militärs verfasst worden und orientiert sich stark an den Interessen des Staates.

In Zeiten von politischen Konflikten steigt das Misstrauen und es geht soweit, dass sich die unterschiedlichen Gruppen gegenseitig das Recht absprechen, ein legitimer Bestandteil der türkischen Gesellschaft zu sein. So standen und stehen sich bis heute oft Laizisten und Religöse, Rechte und Linke, Aleviten und Sunniten oder Türken und Kurden scheinbar unüberwindbar gegenüber. Bei dem aktuellen Konflikt ist die Situation umso komplizierter, weil innerhalb des sunnitischen Lagers Trennlinien entstanden sind. Die „sunnitische“ AKP hat die Staatsgewalt inne und herrscht über die Mechanismen des kemalistischen Apparats und setzt sie mit allen legalen und illegalen Mitteln gegen einen anderen „sunnitischen“ Akteur – die Hizmet-Bewegung – ein.

Kann es eine lagerübergreifende Solidarität geben?

Auch wenn das Alltagsleben meist friedlich verläuft und Ehen zum Beispiel zwischen Kurden und Türken zur Normalität gehören, gelingt es diesen Gruppen nicht, einen Konsens in Bezug auf eine gemeinsame Verfassungsordnung zu erzielen. Doch die zunehmend repressive Politik der AKP und ihrem faktischen Anführer Recep Tayyip Erdoğan gegen alle oppositionellen Gruppen scheint eine lagerübergreifende Solidarisierung zugunsten gemeinsamer demokratischer Werte zur Folge zu haben. Hat das System Erdoğan eine neue Solidarität zur Folge? Und kann aus dieser Solidarität eine neue demokratische Gesellschaft hervorgehen? Einiges deutet in diese Richtung.

Anfang der letzten Woche ist die AKP-Regierung mit dem Vorwurf, die sog. „Parallelstruktur“ zu unterstützen, gegen die Mediengruppe İpek Medya vorgegangen. Der Inhaber des Unternehmens, Akın İpek, ist einer der reichsten Menschen des Landes und macht kein Geheimnis daraus, mit der Hizmet-Bewegung zu sympathisieren. Ein Beispiel für die lagerübergreifende Solidarität ist die Haltung der Tageszeitung Cumhuriyet. Für das säkular-kemalistische Blatt, das in der Vergangenheit zu den schärfsten Kritikern der Hizmet-Bewegung gehörte, war die Nähe der İpek Medya zur Hizmet-Bewegung jedoch kein Grund, sich nicht mit dem in Bedrängnis geratenen Medienhaus zu solidarisieren.

Cumhuriyet richtet Appell an die Öffentlichkeit

Cumhuriyet veröffentlichte am Mittwoch auf der ersten Seite einen Appell an die Öffentlichkeit, in der es heißt: „Die gestrige Razzia gegen die Mediengruppe İpek ist ein neuer Schritt auf dem Weg zum fortschreitenden Autoritarismus. Sie ist ein konkreter Beleg dafür, dass bei den Wahlen in zwei Monaten die Meinungsfreiheit und das Recht auf Propaganda nicht gewährleistet sein wird. Diese Razzien stellen einen offenen Angriff auf Demokratie, Medienfreiheit und Recht auf Information des Volkes dar.“ Des Weiteren heißt es in der Erklärung: „Kein Despot konnte sich halten, indem er die Presse bekämpfte. Aber der Kampf gegen die Presse hat das Ende eines jeden Despoten herbeigeführt.“

Cumhuriyet steht mit ihrer Solidaritätsbekundung derweil nicht allein. Alle Oppositionsparteien – von der pro-kurdischen HDP über die kemalistische CHP bis hin zur nationalistischen MHP – verurteilen das Vorgehen der Regierung. Renommierte Intellektuelle wie etwa Ahmet Altan, alle Berufsverbände und viele zivile Organisationen stellen sich auf die Seite der Unterdrückten – unabhängig davon, welchem Lager sie angehören. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu rief Akın İpek an und sicherte ihm seine Solidarität zu. Außerdem bildete die CHP eine Kommission zur Dokumentation und Untersuchung von Repressalien gegen die freie Presse.

Der Chefredakteur der Hizmet-nahen Tageszeitung Zaman, Ekrem Dumanlı, sieht hier eine Entwicklung, die politische Konsequenzen haben kann. Er sagt, dass die AKP abgewirtschaftet und im religiös-konservativen Lager der Bedarf an einer neuen politischen Kraft deutlich geworden ist: „Falls die Entstehung einer neuen Partei verhindert werden sollte, kann es passieren, dass ehemalige AKP-Wähler bei den kommenden Wahlen ihr Kreuz bei einer linken oder links-säkularen Partei setzen.“ 

„Ihr müsst euch solidarisieren, um eurer selbst willen“

Ahmet Altan, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Taraf und Träger des Leipziger Medienpreises, meldete sich nach den Razzien zu Wort und sagte in Richtung jener, die die Ernsthaftigkeit der Situation nicht erkennen wollen: „Euer Schweigen wird Euch nichts nützen. Auch nicht, dass ihr keine Opposition betreibt. Ihr werdet genau das nachplappern müssen, was sie sagen. Dann aber werdet ihr euch morgen mit ihnen vor Gericht gestellt sehen. Ihr müsst euch solidarisieren, um eurer selbst willen.“

Die Türkei erlebt seit nunmehr einigen Jahren eine stetige innenpolitische Eskalation. Angefangen mit den Gezi-Protesten über die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und die darauf folgenden staatlichen Repressalien gegen alle in der Angelegenheit ermittelnde Stellen bis hin zum Ende des Friedensprozesses. Mit Blick auf die AKP-Politik lassen sich mehrere Konstante erkennen: Durch aggressive Rhetorik und eine auf Loyalität und Abhängigkeit gründende Personalpolitik in staatlichen Einrichtungen und Unternehmen wird bewusst eine gesellschaftliche Polarisierung betrieben, die die wirtschaftlichen Errungenschaften der ersten Regierungsjahre in den Schatten stellt. Etliche Verhandlungspartner und politische Verbündete fielen im Laufe der vergangenen Jahre dieser Polarisierungsstrategie zum Opfer.