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Bildung & Forschung

„Nun kannst du wieder nach Hause zurückkehren, meine geliebte Tochter“

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Das jüngst verabschiedete Demokratiepaket Ankaras hat Frauen weitgehende Freiheit mit Blick auf das Tragen des Kopftuchs gebracht. Ein pensionierter Generalstaatsanwalt erinnert sich jedoch noch an dunklere Zeiten für die Glaubensfreiheit. (Foto: cihan)

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Im Vordergrund Resat Petek, im Hintergrund protestieren Studenten gegen das Kopftuchverbot an den Universitäten vor der Universität Istanbul.
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Das Kopftuchverbot, das in den letzten Jahren als eines der größten Hindernisse der Türkei auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit galt, wurde bereits vor einigen Jahren mit der Aufhebung des Verbots an Universitäten ein Stück weit gelockert. Um die immer noch bestehenden Hindernisse, die Frauen am Zugang zu Arbeit und Bildung gehindert hatten, zu beseitigen, setzte die Regierung ihre Anstrengungen fort und verwirklicht mit dem jüngsten Demokratiepaket die Aufhebung des Kopftuchverbotes in fast allen öffentlichen Bereichen.

Diejenigen, die jahrelang unter diesem Verbot gelitten hatten; die gezwungen waren, für ihre Bildung ins Ausland zu gehen; Absolventen, die in ihrer Heimat nicht arbeiten konnten – ihnen werden nun die Wege zurück in ihre Heimat geöffnet. Den Weg dorthin und was Menschen dabei erlebt haben, hat Reşat Petek (li.) mit dem Schreiben „Meine geliebte Tochter“ wiedergegeben, welches in den sozialen Medien großes Aufsehen erregt hat und reichlich diskutiert und geteilt wurde.

Reşat Petek, ein pensionierter Generalstaatsanwalt und unermüdlicher Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, der derzeit Rechtsberatung betreibt und in verschiedenen Presseorganen Artikel zu Rechtsthemen schreibt, ist bezogen auf das Kopftuchverbot in der Türkei als die erste Person bekannt, die eine öffentliche Anklage dagegen auf der Basis des Verdachts des Verbrechens einer „Behinderung der Freiheit auf Bildung durch illegale Befehle“ erhoben hat. Mit einem Brief an „seine geliebte Tochter“, die wegen des Kopftuchverbots ihre Bildungslaufbahn ins Ausland verlegen musste, teilt er ihr nun die Aufhebung des Verbots im öffentlichen Sektor mit und lässt mit seinen rührenden Worten Augen tränen.

In diesem Brief gibt es Neuigkeiten, über du dich freuen wirst, meine liebe Tochter. Ich hoffe, wenn du meinen Brief liest, dass du deine Entscheidung änderst und in deine Heimat zurückkehren wirst.

Die dunklen Tage sind vorbei, mein Kind. Ich weiß, du und deine Freundinnen, ihr habt sehr gelitten. Ihr wurdet beleidigt. Ihr habt immer „mein Land, meine Schule, meine Lehrer“ gerufen, ihr wolltet studieren, euer einziger Wunsch war es, Bildung zu wollen. Doch die in den Zentren der Dunkelheit getroffenen Entscheidungen haben euch gehindert. Sie haben euch Barrikaden in den Weg gestellt. Wände wurden aufgebaut, eiserne Tore wurden vor euren Nasen zugeschlagen.

Gehorsam gegenüber rechtswidrigen Befehlen

Auch die meisten eurer männlichen Freunde haben sich gegen die Ungerechtigkeiten, die ihr erlebt habt, aufgelehnt. Mit Slogans und Plakaten haben sie euch unterstützt. Für den Schutz eurer Bildungsrechte haben sie auch gekämpft. Die Diskriminierung haben sie verurteilt. Sie haben die Lehrer und die Polizisten angefleht, damit eure Tränen aufhören zu fließen. Eure Mütter sind mit euch gekommen, um vor den Schulen zu demonstrieren und eure Väter haben sich jedes Mal, wenn sie Erlaubnis von ihrer Arbeitsstelle bekommen haben, euch zugesellt. Sie haben versucht, zu verstehen, was dieses Verbot ist. „Warum werden unsere Töchter nicht an den Schulen angenommen?“, haben sie immer und immer wieder gefragt. Und jeder Befragte sagte bloß, dass er einen Befehl von oben hätte. Sie hatten zwar eingesehen, dass die Regelung eine Ungerechtigkeit und Benachteiligung ist, doch zogen sie sich immer auf ihren Stehsatz „So lautet der Befehl“ zurück.

Die staatskundigen Personen habt ihr gefragt, bei Juristen habt ihr euch beraten lassen, die Politiker habt ihr aufgesucht – „Ihr habt Recht“ meinten diese, doch die Behörden, welche euch euer Recht verschaffen sollten, sind blind geworden, sodass sie nicht sehen können und haben sich taub gestellt, sodass sie nicht hören mussten.

Hand in Hand habt ihr gegen die Ungerechtigkeit Widerstand geleistet. Hand in Hand habt ihr mit euren weißen Tüchern die Kette von Europa nach Asien geknüpft. Für Recht, Gesetz, Bildung, eure Schule habt ihr gekämpft.

Um eure Schritte gegen die Ungerechtigkeit zu verhindern und euch zum Schweigen zu bringen, haben sie euch zu Feinden erklärt. Als die größte Bedrohung des Landes haben sie euch bezeichnet. Unter den immer gleichen Anschuldigungen und den immer gleichen Diffamierungen, „Fundamentalismus“, „Verbrechen“, „Verbrecher“ – ohne zu verstehen, was ihr wirklich seid – haben sie euch festgenommen. Euer Kopftuch haben sie ein Stück Stoff genannt – und auch ihr selbst wurdet beleidigt. Die Gedichte und Gebete, welche ihr mit euren Kopftüchern gelesen habt, wurden als Indiz für den Verdacht instrumentalisiert, Mitglied einer Organisation zu sein. Man hat sogar eure Hinrichtung gefordert und ihr wurdet von Gerichten verurteilt und in Kerkerhaft gesperrt.

Klassenbeste aus dem Veranstaltungssaal geworfen

Ihr hattet mal eine Freundin. Sie wurde Erste im Aufsatzwettbewerb. Der Preis sollte im Rahmen einer Versammlung, zu der die Familien, Administratoren, Lehrer und Studenten eingeladen waren, vergeben werden. Als der Name eurer Freundin aufgerufen wurde, ist sie unter großem Beifall auf die Bühne getreten. Sie strahlte vor Freude. Als sie darauf wartete, dass man ihr gratuliert und sie mit dem Preis auszeichnen würde, zeigte plötzlich eine Hand aus der Protokollreihe auf ihr Kopftuch. Nicht auf ihre Intelligenz, ihren Erfolg und ihren Fleiß, sondern auf das weiße Tuch auf ihrem Kopf haben sich die dunklen Gehirne konzentriert. Mit dem Mädchen hatten sie gar kein Mitleid – ohne sie mit dem Preis auszuzeichnen, haben sie sie von der Bühne gebracht. Sie haben sie im Anschluss sogar aus dem Saal geworfen. Ihre Reaktion gegenüber der Ungerechtigkeit an diesem Tag, vor allem ihre Vorwürfe gegen mich, konnte ich nie vergessen.

Wie können wir denn vergessen, wie eure Freundinnen, die sich im letzten Jahr der medizinischen Fakultät befanden, vor die Tür gesetzt wurden? Eure Freundin, die von zwei Polizisten an den Armen gezerrt und der der Mund zugehalten wurde, deren Kopftuch man gewaltsam wegzog – diese Szene spielt sich immer noch vor meinen Augen ab. Ist es möglich, diese Szene einer Grausamkeit, welche an den französischen Angriff auf Kahramanmaraş 1919 erinnerte, zu vergessen?

Ich weiß, dass das, was eure Freundinnen, die ohne Unterwerfung gegenüber rechtswidrigen Befehlen, unter Achtung der Rechte und Gerechtigkeit und durch die Unterstützung gewissenhafter Administratoren ihre Schulen absolvieren konnten, nach Ende ihrer Schulzeit erleben mussten, euch von eurer Heimat entfernt hat. Ihr Recht auf Arbeit wurde ihnen weggenommen – Lehrer, Krankenschwestern, Assistenten, Professoren wurden aufgrund von willkürlichen Disziplinarentscheidungen aus ihren Berufen vertrieben. Sie waren gezwungen, eine Entscheidung zwischen Beruf, Brot und Glauben zu treffen. Sie sollten mit Hunger gebändigt werden.

Wir konnten euch keine Unterstützung leisten, meine liebe Tochter. Den Zuständigen konnten wir das Recht und die Gerechtigkeit nicht erklären. Wir dachten, wir hätten eure Rechte durch das Gesetz verteidigen können, da wir in einem Rechtsstaat leben – doch sind wir gescheitert. Mit einer fundierten Beurteilung haben wir uns verteidigt. Sie aber haben gegen die Verfassung und die Gesetze entschieden, einzig auf Kadavergehorsam gegenüber rechtswidrigen Befehlen gestützt.

Selbst die Justiz wurde zum Schweigen gebracht

Leider haben viele sich an der Unterdrückung beteiligt. Aufrechte Richter, welche ihre gewissenhafte Berufsausübung als ein Gottesgebot ansehen, haben diejenigen, die die Bildungsfreiheit verhindern wollten, mit einem Urteilsspruch gestoppt – doch haben die dunklen Hände auch die gerechte Stimme der Justiz zum Schweigen gebracht, auch diese hat ihren Anteil an Unterdrückung abbekommen.

Meine liebe Tochter, ich weiß, ich habe zu viel geschrieben. Doch mich drängt es so sehr danach. Aus jedem einzelnem von euch erlebtem Drama von euch könnte ein Roman entstehen. Ich kann sie alle hier nicht aufzählen. Jedoch muss ich folgendes unbedingt aufschreiben: Du und deine Freundinnen habt gegen die Ungerechtigkeiten, die ihr erlebt habt, immer im Rahmen des Gesetzes gekämpft. Ihr habt keine Steine auf eure Schulen geworfen oder diese beschädigt. Die Polizisten, die euch von den Schultüren, euch an euren Kopftüchern und Mänteln reißend weggezogen haben, habt ihr nicht mit Molotowcocktails beworfen, mit Schimpfwörtern beleidigt oder ihre Fahrzeuge in Brand gesetzt. Mal habt ihr eure Tränen nach innen fließen lassen, mal wurde daraus eine Flut. Euer Leben hat sich verdunkelt, eure Jugendjahre sind vergangen. Ihr konntet nicht studieren und euren Traumberuf ausüben.

Die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, die ihr erlitten habt, stärkten euren Glauben und eure Entschlossenheit. Ihr wart der Meinung, dass, wenn ihr nicht in eurer Heimat studieren könnt, dann eben im Ausland studiert. Einige von euch sind nach Europa und einige in die USA gewandert. In vielen Ländern von Australien bis Österreich, in die ihr ausgewandert seid, wurdet ihr zu unserem Stolz. An ausländischen Hochschulen habt ihr von ausländischen Rektoren und Dekanen Diplome erhalten – dort wurdet ihr als eurer Auszeichnungen würdig angesehen. Die Prohibitionisten, die von euren Erfolgen erfahren haben, sich selbst als modern und fortschrittlich, doch euch als zurückgeblieben und fortschrittsfeindlich angesehen haben – ich frage mich, ob sich nicht irgendwann die Schamesröte in ihren Gesichtern gezeigt hat, ob sie für das, was sie getan haben, Reue empfunden haben? Auch wenn ab und zu schwache Stimmen zu hören sind, die ihre Fehler zugeben, haben die herzlosen Unterdrücker ihre Grausamkeiten leider immer noch nicht eingeräumt.

Promotion in der Fremde

Aber nicht umsonst sagten einst unsere Vorfahren: „Wenn der Unterdrücker seine Grausamkeit hat, haben die Unterdrückten Gott!“

Nun herrscht nicht nur an unseren Universitäten, sondern auch an allen öffentlichen Einrichtungen ein Fest der Freiheit. Ihr wolltet sowieso kein Privileg, sondern nur Gleichheit. Das Recht auf freien Glauben und das Recht, nach diesem zu leben, wurden endlich zugelassen. Die Unterscheidung von Menschen danach, ob sie mit oder ohne Kopftuch auftreten, gibt es nicht mehr. In der Zwischenzeit hast du in der Fremde deine Promotion schon beendet.

Der Heimat und der Nation böse zu sein, gilt nicht. Deine Sehnsucht lässt unsere Herzen brennen. Wir sind in der Zwischenzeit gealtert und unsere Lebensuhr ist weiter vorangeschritten. Wann wir sterben, das weiß allein nur Gott, doch, meine liebe Tochter, wir vermissen dich so sehr. Lass uns nicht weiter warten, nun kannst du in deine Heimat zurückkehren…