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Kultur/Religion

Er sieht niemanden, aber Millionen können ihn hören

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Der Adhan schallt fünfmal täglich von den Minaretten in Istanbul – doch wer ruft da eigentlich? Zu Besuch beim Muezzin der berühmten Blauen Moschee.

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Fünfmal am Tag erschallt der Ruf von tausenden Minaretten in Istanbul: „Allahu akbar!“ – „Gott ist groß!“ Rund 2000 bis 3000 Muezzine rufen die Muslime in der Millionenmetropole zum Gebet und übertönen dabei fast jedes andere Geräusch. Im Minarett der Sultan-Ahmet-Moschee – der berühmtesten Moschee der Türkei, die auch als Blaue Moschee bekannt ist – ruft Ibrahim Altuntaş mit geschlossenen Augen in ein Mikrofon. Die buschigen, schwarzen Augenbrauen hüpfen im Rhythmus auf und ab. Sein langgezogener Gesang wird elektronisch verstärkt und zu außen angebrachten Lautsprechern transportiert. Das enge Minarett füllt der kleine Mann mit seiner Stimme auch ohne Verstärker vollkommen aus.

Als der 39-Jährige aus dem runden Turm heraus tritt, nimmt einer der Sicherheitsbeamten ihn am Arm und führt ihn zu einem Podest im Innern der Moschee. Altuntaş ist seit seiner Geburt blind. Als Einschränkung für seinen Beruf erlebt er das nicht – sein besonders geschultes Gehör kam ihm beim Selbststudium sogar zu Gute. Schon als Kind hörte er sich Koranrezitationen an, um ein sogenannter Hafız zu werden, also das heilige Buch der Muslime auswendig zu lernen und genauso schön vorzutragen wie seine Vorbilder. In der Koranschule förderten seine Lehrer ihn, bevor er rund zweieinhalb Jahre vom berühmten İsmail Biçer lernte.

Seit 2012 in der Sultan-Ahmet-Moschee

Seit drei Jahren arbeitet er als Muezzin in der Blauen Moschee. Vom Podest im Innern der Moschee aus signalisiert er mit einem zweiten Ruf den Beginn des Gebets. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, den Imam (Vorbeter) während des Gebets zu unterstützen und nach dem Gebet Lobpreisungen zu singen. Im Fastenmonat Ramadan rezitiert er zusätzlich aus dem Koran. Am Freitag – dem Feiertag der Muslime – gibt es zudem einen speziellen Gebetsruf, der auch ertönt, wenn jemand verstorben ist und dessen Totengebet ansteht.

Seine erste Stelle als Muezzin trat Altuntaş im Alter von 23 Jahren in der westtürkischen Stadt Bursa an. Zwischen den Gebeten bildete er sich am Konservatorium von Bursa weiter, und wurde schließlich einer von fünf Muezzinen in der Blauen Moschee. „Das ist eine große Verantwortung, weil es so eine wichtige Moschee ist“, sagt er.

„Eine gute Stimme alleine reicht nicht“

Die Muezzine der Blauen Moschee gehörten zu den Besten in der Türkei, erklärt der Imam İshak Kızılaslan. Um Teil der erlesenen Gruppe zu werden, sei Übung genauso wichtig wie für Opernsänger, sagt Altuntaş. „Eine gute Stimme alleine reicht nicht.“ Sie ist jedoch die Voraussetzung, um überhaupt Muezzin zu werden. Die Ausbildung übernehmen häufig Mentoren, die Jungen mit besonders schönen Stimmen fördern. Altuntaş ist zunächst von seinem Vater gefördert worden. Der Vater sei selbst zwar kein Muezzin gewesen, habe aber eine wunderschöne Stimme gehabt, erzählt der Sohn.

Für Altuntaş hat sich die viele Übung auf jeden Fall gelohnt: Noch bevor er seine Aufgabe in der Blauen Moschee antrat, wurde der blinde Muezzin bei Wettbewerben schon für seine Kenntnis und Rezitation des Koran ausgezeichnet. Seit er in der Blauen Moschee arbeitet, tritt er sogar im Fernsehen auf. Dass dem blinden 39-Jährigen viel Respekt entgegen gebracht wird, merkt man auch in der Moschee – sobald er alleine unterwegs ist, nimmt ihn jemand am Arm und führt ihn zu seinem Büro, seinem Podest oder dem Minarett. (dpa/dtj)