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Kolumnen

Der ewige Kandidat

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Trotz Ankündigung von Kanzlerin Merkel scheint eine Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses der Türkei schwierig. Die gegenseitigen Erwartungen gehen sehr weit auseinander und die Beziehung leidet unter einer Vertrauenskrise. (Foto: Cihan)

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Der ewige Kandidat
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Der christdemokratische Vorsitzende der Kommission der EWG, Walter Hallerstein, kommentierte 1963 das Assoziierungsabkommen mit der Türkei mit den Worten: „Wir sind heute Zeuge eines Ereignisses von großer politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs.“

Seitdem hat sich viel getan auf der Erde: Der Kalte Krieg ist überwunden, die 68er-Kulturrevolution hat die westlichen Gesellschaften tiefgreifend verändert, die beiden deutschen Staaten sind vereint, aus der Berliner Mauer ist ein vielbesuchtes Museumsobjekt geworden, die Sowjetunion gibt’s nicht mehr und die Welt hat die schrecklichen Terroranschläge von 11. September erlebt, welche die ohnehin stets vorhandenen Gräben zwischen dem Westen und der islamischen Welt weiter vertieften.

Auch Europa hat sich weiterentwickelt: Aus der EWG ist die EU geworden, eine politische Union mit einer gemeinsamen Währung, an der sie vielleicht am Ende sogar zerbrechen könnte. Und es sind noch viele, viele neue Mitglieder hinzugekommen. Nur die Türkei, der „ewige Kandidat“, ist immer noch nicht mit dabei. Wenn es nach den deutschen Christdemokraten ginge, die sehr ungern an die Worte ihres Parteikollegen Hallerstein erinnert werden wollen, soll das so bleiben -jetzt und auch in den nächsten 50 Jahren.

Ob es die EU dann noch gibt?

Zu der Wahrheit gehört, dass die Türkei in den vergangenen 50 Jahren nicht gerade durch Fortschritt in Staatswesen und Wirtschaft geglänzt hatte: Ein starkes Militär, welches noch bis vor einigen Jahren die Geschicke im Hintergrund bestimmt hatte, vier Militärinterventionen, wovon eine als postmoderner Putsch in die türkische Geschichte eingegangen ist und weitere gescheiterte Putschvorhaben sorgten für instabile Verhältnisse. Die Türkei war über Jahrzehnte hinweg mehr eine gelenkte als eine gewählte Demokratie.

Die Türkei will und Deutschland ist dagegen? – So einfach ist die Wahrheit in dieser Frage nicht.

Zur der ganzen Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, dass es sich – unabhängig von der EU-Mitgliedschaftsfrage – bei den deutsch-türkischen Beziehungen um etwas Besonderes handelt. Und das nicht erst seit 1963. Helmuth von Moltke, der spätere preußische Generalfeldmarschall, lebte in den Jahren von 1835-1839 in der Türkei und ist wohl eine der wichtigsten historischen Persönlichkeiten, die die deutsch-türkischen Beziehungen prägten. In einem seiner Briefe schreibt er über den „kranken Mann am Bosporus“: „Es ist lange die Aufgabe abendländischer Heere gewesen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen; heute scheint es die Sorge der europäischen Politik zu sein, diesem Staat das Dasein zu fristen.“ So schwach ist die Türkei nicht mehr. Aber auch nicht so stark wie zu Zeiten Sultan Süleymans des Prächtigen (1520 – 1566), der europäische Herrscher nach Belieben ein- und absetzte. Die Türkei braucht Europa. Aber wie lange noch? Und eine wichtige andere Frage ist: Wie sollen sich die deutsch-türkischen Beziehungen ohne die EU-Perspektive weiterentwickeln?

Soll die Türkei nun Mitglied der EU werden oder nicht? Meine Antwort lautet: Ja! Weil die politische Vernunft es gebietet. Allein schon die Vorstellung, dass die Gründungsideen der EU wie dauerhafter Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand auch den Nahen Osten, der sich mit dem Arabischen Frühling auf die Suche nach einem politischen Modell begeben hat, erfassen könnte, ist es wert, dass die Türkei Mitglied wird.

Wird sie es werden? Ich glaube nein. Weil die politische Praxis nicht immer nach den Regeln der politischen Vernunft funktioniert.