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Gesellschaft

Der Fall Hatun Sürücü: Neuer Prozess nährt Hoffnung auf Gerechtigkeit

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In einer kalten Februar-Nacht im Jahr 2005 wurde die Deutsch-Türkin Hatun Sürücü in Berlin von ihrem jüngsten Bruder erschossen, weil er ihre Moralvorstellungen nicht habe akzeptieren können. Jetzt stehen zwei Familienmitglieder in der Türkei vor Gericht.

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Sie war gerade erst 15 Jahre alt, als ihre Familie sie in der Türkei zur Heirat mit ihrem Cousin zwang. Wenig später wurde die junge Deutsch-Türkin Hatun Sürücü schwanger und hielt es nicht mehr aus. Sie ging zurück nach Deutschland und änderte ihr Leben: Ihren kleinen Sohn zog sie allein groß, ging gern auf Partys, hatte deutsche Freunde und machte in Berlin eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Irgendwann legte sie auch das Kopftuch ab.

Doch der Wandel zum westlichen Lebensstil passte der aus Ostanatolien stammenden Familie nicht. Vor knapp elf Jahren wurde die 23-jährige Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle in Berlin von ihrem jüngsten Bruder erschossen. Der Mordfall erschütterte Deutschland. Und er ist noch nicht zu den Akten gelegt.

Der Mörder wurde im Sommer 2014 nach verbüßter Haft nach Istanbul abgeschoben. Nun soll am 26. Januar am Strafgericht in der türkischen Metropole der Prozess gegen zwei weitere Brüder beginnen. Den 35 und 36 Jahre alten Männern wird nach Angaben der türkischen Justiz das vorsätzliche Töten eines nahen Verwandten vorgeworfen. Die beiden Angeklagten sollen demnach den jüngsten Bruder mit dem Mord beauftragt haben, um die „Familienehre“ wieder herzustellen. Auch der Kauf und Besitz nicht zugelassener Schusswaffen sind Anklagepunkte.

Flucht vor der deutschen Justiz

In dem Berliner Mordprozess waren die mitangeklagten Brüder Mutlu und Alpaslan 2006 zunächst aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden, der Bundesgerichtshof hob die Freisprüche 2007 auf. Doch zu einem neuen Prozess kam es nicht mehr – beide hatten sich in die Türkei abgesetzt. Und die liefert keine Staatsbürger aus. So wurde jahrelang gemutmaßt, ob sich die Verdächtigen jemals verantworten müssen. Doch 2013 eröffnete die türkische Seite dann ein eigenes Strafverfahren gegen die Männer, die auf freiem Fuß sind.

„Allein die Tatsache, dass der Prozess stattfindet, ist eine gute Nachricht für die Gerechtigkeit“, sagt Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) der Deutschen Presse-Agentur (dpa). „Denn ein Mord ist ein Mord. Für das Rechtsempfinden der Menschen ist es nicht gut, wenn der Eindruck entsteht, man kann sich durch Flucht der Verantwortung entziehen.“ Berlin hatte den türkischen Behörden sämtliche Akten zu dem Fall geschickt.

Die beiden Angeklagten wiesen die Vorwürfe in bisherigen Aussagen zurück, wie aus Gerichtsakten hervorgeht, die der dpa vorliegen. Demnach wollen sie ihren jüngsten Bruder nicht zum Mord an Hatun angestiftet oder ermutigt haben. Der Todesschütze selbst hatte im Berliner Prozess beteuert, er habe die Tat allein verübt. Er habe die Moralvorstellungen seiner Schwester nicht akzeptiert. Die Pistole, mit der die Kopfschüsse abgefeuert wurden, ist bis heute verschwunden.

Hohe Beweislast gegen die Angeklagten

„Es muss angenommen werden, dass, wenn auch kein Indiz allein ausreicht, um die Schuld der Verdächtigen zu beweisen, dennoch die Gesamtheit der Indizien den nötigen Beweis liefern kann“, heißt es in der Anklageschrift beim Istanbuler Strafgericht. Gesetzt werde auf die Aussagen der Ex-Freundin des Mörders. Sie war schon in dem Berliner Prozess als glaubwürdig eingestuft worden und wurde mit ihrer Mutter ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Ihre Aussagen zu Alpaslan und Mutlu würden als ebenso glaubhaft angesehen.

Der Todesschütze soll seiner damaligen Freundin nach der Tat erzählt haben, dass er die Waffe von dem heute 36-jährigen Mutlu bekommen habe. Der andere, Alpaslan, soll laut Anklage dem Mörder am Tatort „geistigen Beistand“ geleistet haben.

Hatun Sürücü, die immer wieder auf eine Aussöhnung mit der Familie gehofft hatte, war völlig arglos, als sie ihren kleinen Bruder in jener Februar-Nacht zur Bushaltestelle begleitete. Sie hatte noch eine heiße Kaffeetasse in der einen und eine brennende Zigarette in der anderen Hand. (dpa/ dtj)