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Politik

„Der Friede ist wahrlich nicht in der europäischen DNA verankert“

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Am Freitag hat der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), eine Rede über die Botschaft des Friedensnobelpreises an die Verantwortlichen in der EU, zu Lage und Zukunftsperspektive der EU gehalten. (Foto: dpa)

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Es ist die dritte Europäische Rede, die auf die Initiative von drei Stiftungen – Konrad-Adenauer-Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung und der Stiftung Zukunft – zurückgeht. Hier finden Sie die gesamte Rede.

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Lammert,
Sehr geehrter Herr Professor Pöttering,
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
Sehr geehrter Herr Hassemer,
Sehr geehrter Herr Berg,
Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Den Veranstaltern, der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung und der Stiftung Zukunft, möchte ich zu Ihrer Initiative, der Berliner Europa-Rede, gratulieren. An diesem schicksalhaften Datum, dem 9. November, gerade hier in Berlin, eine Europa-Rede zu veranstalten und damit gleichsam zu verdeutlichen, dass die deutsche und die europäische Geschichte so untrennbar miteinander verbunden sind, wie die deutsche und die europäische Zukunft – das ist eine kluge Initiative! Dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken.

Wir leben in bewegten Zeiten, wir leben in schwierigen Zeiten – vor allem für Europa. Das Trommelfeuer der Krisenberichterstattung über die Europäische Union wurde allerdings vor drei Wochen durch eine überraschende Nachricht jäh unterbrochen: Der EU wird am 10. Dezember in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen. Endlich eine gute Nachricht in dieser Untergangsstimmung, haben viele von uns wohl gedacht. Und in der Tat: Es ist eine gute Nachricht und eine verdiente Auszeichnung. Der Friedensnobelpreis ehrt die historischen Erfolge der europäischen Integration. Er soll uns Ansporn sein, gerade jetzt in der Krise weiterzukämpfen und Alles zu tun, um die Europäische Union nicht scheitern zu lassen.

Der Friedensnobelpreis ist aber auch auf andere Weise eine große Chance. Denn diese Auszeichnung gibt uns die Gelegenheit, einmal über die Tagespolitik hinaus, über den Ereignisdruck der Mediengesellschaft hinaus, über die Kurzatmigkeit unseres alltäglichen Handelns hinaus, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist.

Deshalb möchte ich heute der politischen Kurzfristigkeit eine Absage erteilen und Sie einladen, mit mir gemeinsam am 9. November, in Berlin, diesen Schicksalstag, diesen Schicksalsort des deutschen Volkes, in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen.

Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichtages die Republik aus. Das deutsche Kaiserreich war beendet, und mit ihm endgültig auch der Erste Weltkrieg.

Am 9. November 1923 marschierten die Nationalsozialisten unter Führung Adolf Hitlers in München zur Feldherrnhalle. Ein Putschversuch, der scheiterte und doch das Grauen der totalitären Nazi-Herrschaft vorzeichnete.

Am 9. November 1938 wurden in der Reichspogromnacht Synagogen in ganz Deutschland in Brand gesetzt. Ein Menetekel für das entsetzlichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte: Die systematische Ermordung der europäischen Juden.

Am 9. November 1989 brachten mutige Menschen die Berliner Mauer zum Fall und der Funken der Freiheit breitete sich über Europa aus. Berlin, das über Jahrzehnte Symbol der Teilung Deutschlands und Europas war, wurde zum Symbol der Einheit und Freiheit.

Was auch immer an einem 9. November in Deutschland geschah, das war auch immer entscheidend für den Lauf der Dinge in Europa. Deutsche und europäische Geschichte sind auf das Engste verwoben. Wer das nicht versteht, der wird die europäische Integration nicht verstehen, wird die Verantwortung Deutschlands heute in und für Europa nicht verstehen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Nach dem Zweiten Weltkrieg liegt Europa in Trümmern, moralisch und physisch. Der von Deutschland ausgelöste Krieg hat Europa zerstört: 60 Millionen Tote, darunter 19 Millionen Zivilisten und sechs Millionen europäische Juden. Verwüstete Städte. verheerte Landstriche. Zerrissene Familien. Schutt und Asche, Elend und Hoffnungslosigkeit – das war Europa damals.

Was folgte, das erstaunt uns noch heute: Sechs Jahrzehnte Frieden auf unserem Kontinent, der in den vergangenen Jahrhunderten wohl keinen einzigen Tag kannte, an dem nicht irgendwo in Europa Schlachten geschlagen und Menschen niedergemetzelt wurden. Der Friede ist wahrlich nicht in der europäischen DNA verankert.

Indes, was als „Wunder“ mittlerweile fast mythische Formen angenommen hat, dieses „Wunder“ wurde als „Immunsystem gegen Kriege“ bezeichnet. Dieses „Immunsystem“, das ist die Methode der Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Eine Idee, die ich für eine der genialsten in der Menschheitsgeschichte halte. Diese Idee umzusetzen, diese Idee durchzusetzen, das hat Kühnheit und Weitsicht erfordert – und den Mut zu einer auf Langfristigkeit ausgerichteten Politik.

Erinnern wir uns, der französische Außenminister Robert Schuman schlug dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer in wenigen Worten, in einem kurzen handschriftlichen Brief nichts weniger als eine Revolution vor, der Adenauer sofort, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, „aus ganzem Herzen“ zustimmte: Die kriegswichtigen Schlüsselindustrien, die Kohle- und Stahlproduktion, sollten unter die Verwaltung einer gemeinsamen Hohen Behörde gestellt werden. Das war die brillante Idee von Robert Schuman und seinem Berater Jean Monnet.

Dabei waren die Nachkriegsjahre sicher keine Zeit des Pathos. Es herrschte eher die nüchterne Einsicht in die Notwendigkeit: Wenn es jemals dauerhaften Frieden auf diesem Kontinent geben sollte, dann musste man es den Deutschen ermöglichen, eine eigene Demokratie aufzubauen. Durchaus im Bewusstsein all dessen, was im Namen des deutschen Volkes an Grausamkeiten verübt worden war, es den Deutschen dennoch gestatten, erhobenen Hauptes in die demokratische Völkerfamilie zurückkehren zu können. In der Rückschau auf das 20. Jahrhundert ist der Schuman-Plan historisch der Gegenentwurf zum Versailler Vertrag des Georges Clemenceau: Nicht auf die Knie, an den Pranger, ihr seid schuld – sondern bekennt euch zu eurer Verantwortung und wir reichen euch die Hand zum Frieden.

Helmut Schmidt hat das als „realistische Einsicht in die Notwendigkeit, eine Fortsetzung des Kampfes zwischen Peripherie und dem deutschen Zentrum zu vermeiden“ und diese Einsicht als „Ursprungsmotiv der europäischen Integration“ bezeichnet. Denn Manche fürchteten bereits das Wiedererstarken Deutschlands und sahen erneute Konflikte voraus. Weil sie jedoch eine auf Langfristigkeit angelegte Politik betrieben, war ihnen klar, dass die enge Einbindung dieses Kolosses in der Mitte dieses Kontinents, der so viel Unglück über die Völker Europas gebracht hatte, der einzig Weg war, um einen erneuten Krieg zu verhindern. Robert Schuman hat das die „Solidarität der Tat“ genannt. Sich zu dieser „Solidarität der Tat“ zu bekennen, das hat damals ungeheuren Mut erfordert. Wir erinnern uns heute nur noch blass daran, was das damals bedeutete. Charles de Gaulle, Robert Schumann, Paul-Henri Spaak, Alcide de Gaspari, Joseph Bech, Johan Willem Beyen mussten ihren Landsleuten zuhause erklären, dass nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – zu einem Zeitpunkt, an dem die Bilder blutiger Schlachtfelder noch nicht verblasst, die tiefen Wunden noch nicht vernarbt, die zerstörten Häuser in den zerbombten Städten noch nicht wieder aufgebaut waren – man jetzt dem Erzfeind die Hand zur Versöhnung reichen würde, die Täter nicht auf ewig verdammen sondern sie wieder in die Gemeinschaft aufnehmen und ihnen auch noch beim wirtschaftlichen Wiederaufbau helfen würde. Das war eine Zumutung! In seinem epochalen Werk „Geschichte Europas“ lässt Tony Judt den US-amerikanischen Geheimdienstoffzier Saul K. Padover zu Wort kommen: „Kein Mensch wird verstehen, welche Gefühle die Europäer den Deutschen entgegenbringen, solange er nicht mit Belgiern, Franzosen oder Russen gesprochen hat. Für sie sind nur tote Deutsche gute Deutsche.“

Den Deutschen die Hand zu reichen, das hat damals unermesslichen Mut erfordert, politische Klugheit und große Weitsicht zudem. Männer und Frauen dieser Generation haben ihr politisches Schicksal durch ein Bekenntnis zur Idee Europa mit dem europäischen Schicksal verknüpft. Damit sind sie ein hohes Risiko für ihre politische Zukunft eingegangen. Denn sie trafen diese Entscheidung im Bewusstsein, dass sie nicht populär war und Früchte – wenn überhaupt – dann erst in ferner Zukunft tragen würde.

Und doch, es gelang: Deutschland wurde in die Mitte Europas zurückgeführt. Feinde wurden Freunde, Grenzen geöffnet, eine zerstörte Region zum reichsten Binnenmarkt der Welt. Wohlstand, Frieden und Freiheit zogen dauerhaft in Europa ein. Auch, weil es in Europa gelang, ein einzigartiges Gesellschaftsmodell zu bauen. Auf der Basis eines breiten politischen Konsenses, dass der Staat der Wirtschaft einen sozialen Ordnungsrahmen zu geben habe, wurde der Wohlfahrtsstaat geboren. Die Kluft zwischen Arm und Reich schrumpfte. Und die größere Gleichheit linderte die Angst vor einer Rückkehr des Extremismus. Wie uns Tony Judt erinnert: Die wichtigste Aufgabe der Nachkriegspolitiker war es, die Mittelklasse wieder mit der Demokratie zu versöhnen. Das europäische Wohlfahrtsmodell wurde zum Bollwerk gegen die Rückkehr vergangener Schrecken.

Denn Zugang zu Bildung, Gesundheit, progressive Besteuerung, Mitbestimmung, Renten und Arbeitslosenversicherungen, ja, das sind auch heute die Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie sind aber auch, wie die von der katholischen Soziallehre inspirierte christdemokratische Generation der Nachkriegspolitiker von Adenauer bis de Gaspari, von de Gaulle bis Schuman richtig erkannte, die beste Stabilisierungsmaßnahme für junge Demokratien, der beste Schutz vor politischem Extremismus, von links wie von rechts.

Und gerade deshalb erlaube ich mir folgenden Hinweis: Wenn heute wieder von einer „verlorenen Generation“ in Europa gesprochen wird, dann muss uns das aufschrecken lassen. In Griechenland und Spanien ist jeder zweite junge Mensch ohne Arbeit. Viele mehr stecken in einer fatalen Spirale aus Praktika und Zeitverträgen fest. Das führt zu Enttäuschung, zu Frustration, zu Wut. Und untergräbt das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Wir bilden das Herz Europas“, sagte der französisches Präsident Francois Hollande vor wenigen Wochen beim „Festakt zum 50. Jahrestag der Rede Charles de Gaulles an die deutsche Jugend“ zur deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die deutsch-französische Freundschaft hat über Jahrzehnte als Motor der europäischen Einigung gewirkt.

Charles de Gaulle und Konrad Adenauer schufen das Fundament für ein völlig neues Miteinander der beiden Völker. Diese beiden Männer, tief geprägt durch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, und den Zivilisationsbruch des Naziregimes, jeder auf seine Weise, besaßen den Mut gegen den verständlichen Zorn, der in ihren Tagen herrschte, den Glauben an die langfristige Wirkung der Versöhnung zu setzen. Das macht sie zu wahrhaft großen Gestalten der europäischen Geschichte.

Helmut Schmidt und Valéry Giscard D’Estaing leiteten in freundschaftlicher Verbundenheit eine Vertiefung der europäischen Einigung ein, indem sie mit der Schaffung einer „Europäischen Zone der Währungsstabilität“ die Grundlagen für den Euro schufen – den „ECU“.

Diese beiden Staatsmänner, der eine Soldat der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, der andere als Sohn eines französischen Besatzungsoffiziers in Koblenz geboren, begriffen, dass der beste Weg um die jungen Demokratien Griechenland, Spanien und Portugal, die gerade erst das Joch ihrer faschistischen Diktaturen abgeworfen hatten, zu schützen und zu stabilisieren, ihre schnelle Integration in die europäische Gemeinschaft war. Die Beitrittsperspektive hat in diesen Staaten ähnlich wie später in den ost- und mitteleuropäischen Ländern wesentlich zur Stabilisierung der jungen Demokratien beigetragen. Auch damals waren die Erweiterungsrunden nicht unumstritten, aber auch Schmidt und Giscard D’Estaing setzten anstatt auf kurzfristige Taktik auf langfristige Wirkung. Diktaturen wandelten sich zu Demokratien, auch das ist Teil der europäischen Erfolgsgeschichte, die mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird.

Die Ablösung von Helmut Schmidt und Valéry Giscard D’Estaing durch Helmut Kohl und Francois Mitterrand wurde in ihren jeweiligen Ländern zu Recht als Zäsur empfunden. Was jedoch bestehen blieb, das war der unbedingte Wille zur Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit als stabile Grundlage der europäischen Einigung.

Wir erinnern uns noch an jenen Tag im September vor 28 Jahren, als Helmut Kohl und Francois Mitterrand Hand in Hand auf dem Soldatenfriedhof bei Verdun der im Ersten Weltkrieg gefallenen französischen und deutschen Soldaten gedachten. Hand in Hand, der Franzose, der im Zweiten Weltkrieg verletzt wurde und der Deutsche, dessen Bruder im Krieg fiel. Hand in Hand auf dem Schlachtfeld in Verdun, dem Ort an dem 843 das Reich Karl des Großen aufgeteilt wurde, dem Ort an dem 1916 in der „Knochenmühle“ Verduns, dem Grauen der Schützengräben eine halbe Million Franzosen und Deutsche abgeschlachtet wurden.

1991, trafen Mitterrand und Kohl die Entscheidung, die gemeinsame Währung, den Euro, Wirklichkeit werden zu lassen. Die Entscheidung für den Euro war eine Wiederaufnahme der Idee Monnets, erneut durch Integration drohende Konflikte zu vermeiden. Hier in diesem Saal sind viele Zeitzeugen dieses Versuchs, ein durch die Wiedervereinigung erstarkendes Deutschland eng in Europa einzubinden. Auch die Angst vor einer übermächtigen Bundesbank und eines D-Mark-Imperialismus beherrschte die Debatte. In manchen Regierungszentralen war man zögerlich, ob die deutsche Einheit der richtige Schritt war. Und auch hier war es der Mut zur langfristigen Politik, der über die Verführung aktuellen Missstimmungen nachzugeben, triumphierte.

Über Jahrzehnte war es die deutsch-französische Freundschaft, die an unterschiedlichen Weggabelungen die europäische Einigung voranbrachte.

Heute, fast ein Jahrzehnt nach der Osterweiterung, ist es an der Zeit, dieses französisch-deutsche Paar um einen Dritten im Bunde zu erweitern: um Polen.

Unser Nachbar Polen ist die dynamischste Volkswirtschaft in der EU. Dieses Land fester in Europa einzubinden ist in unser aller Interesse.

Zumal Polen als Repräsentant der mittel- und osteuropäischen Staaten eine Vorreiterrolle heute schon einnimmt. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Weimarer Dreieck wiederbelebt werden und Polen möglichst bald dem Euro beitreten sollte.

Lech Walesa, Bronislaw Geremek, Wladyslaw Bartoszewksi – diese außergewöhnlichen Persönlichkeiten haben uns vor Augen geführt, welchen Beitrag ihr Land zu Europa leistet. Premierminister Donald Tusk und Präsident Bronislaw Komorowski sind beide Vertreter eines europäischen Geistes von solch intellektueller und emotionaler Frische, wie man es sich bei manchem europäischen Politiker aus den sogenannten „alten“ Mitgliedsländern wünschen würde. Und den Beitrag, den der polnische Papst Johannes Paul II zur Wiedervereinigung unseres Kontinents geleistet hat, kann man nicht hoch genug schätzen.

Ein Blick in die bittere, leidvolle Geschichte des polnischen Volkes lässt erahnen, dass es in diesem Land nicht leicht ist, die langfristige Einbindung in die europäische Einigung der kurzfristigen nationalen Wallung entgegen zu setzen. Wer die Geschichte unserer Völker betrachtet, der muss die Chance, dass Deutschland, Frankreich und Polen vereint in einer gemeinsamen politischen Union und verbunden durch eine gemeinsame Währung das 21 Jahrhundert bewältigen, als Geschenk von unschätzbarem Wert begreifen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der Friedensnobelpreis ehrt jene mutigen Menschen, die mit Weitsicht und Kühnheit Entscheidungen trafen, die das Leben von Millionen Menschen verbessern sollten. Männer und -Frauen, die ihr politisches Schicksal untrennbar mit dem Bekenntnis zu Europa verbanden.

Wenn am 10. Dezember diesen Jahres europäische Politiker und Politikerinnen, Repräsentanten der EU-Institutionen und Regierungschefs nach Oslo reisen, dann tun wir das als ihre Stellvertreter. Uns soll dieser Preis daher Mahnung sein, in der jetzigen Krise, der schwersten Krise der europäischen Einigung, die Politik des Durchwurstelns zu beenden und zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren. Uns soll dieser Preis Ermutigung sein, uns mit der gleichen Bedingungslosigkeit zu Europa zu bekennen, unser politisches Schicksal mit dem Schicksal Europas untrennbar zu verknüpfen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Jürgen Habermas schrieb über meine Politikergeneration von „einer normativ abgerüsteten Generation, die sich von einer immer komplexeren Gesellschaft einen kurzatmigen Umgang mit den von Tag zu Tag auftauchenden Problemen aufdrängen lässt.“ Ich muss diese Kritik auch als Selbstkritik annehmen.

Politik ist heutzutage dem Rhythmus der globalisierten Mediengesellschaft unterworfen und wird in einer unvorstellbar kurzen Taktung vollzogen. Wir alle kennen das: Kaum läuft eine Meldung über die Ticker der Nachrichtenagenturen, muss sie kommentiert werden. Kaum ist eine Umfrage auf dem Markt, muss schon reagiert werden. Die sozialen Medien, Twitter und Facebook, verstärken den Druck, immer sofort reagieren zu müssen. Es wird in Zeitfenstern von maximal der nächsten Wahl gedacht. Selbst Rating-Agenturen geben der Politik den Takt für Entscheidungen vor. Umso mehr hat mich beeindruckt, dass sich – wie andere Bundeskanzler zuvor – auch Gerhard Schröder entschieden hatte, diesem Diktat des Moments zu entsagen und eine Reform in Deutschland zu initiieren, die unser Land nach vorne gebracht hat, aber deren Ernte die von ihm geführte Bundesregierung nicht mehr selbst einfahren konnte.

In dieser im Entstehen begriffenen „marktkonformen Demokratie“, die sich dem Ereignisdruck der Märkte beugt anstatt ihr den Primat der Politik entgegenzusetzen, droht die parlamentarische Demokratie unter die Räder zu kommen – denn Parlamente brauchen Zeit, um Vorschläge zu prüfen, um in streitbarer Diskussion Argumente auszutauschen und konsensuale Lösungen zu suchen oder Entscheidungen durchzusetzen.

Was auch unter die Räder kommt, das ist die Langfristigkeit, das Denken in längeren Zeiträumen. „Griechenland bekommt keinen Cent“ – das mag tagespolitisch eine populäre Lösung sein. Aber muss man sich nicht auch die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was der Ausschluss oder Austritt Griechenlands an langfristigen Auswirkungen mit sich brächte? Etwa weitere spekulative Attacken gegen den Euro? Gar einen Dominoeffekt, bei dem ein Euro-Land nach dem anderen fallen würde? Die Bertelsmann-Stiftung spricht von einem unmittelbaren Schaden von drei Billionen Euro für Deutschland. Und welche langfristigen gesellschaftlichen Kosten entstehen erst, wenn das soziale Gewebe eines Landes brüchig wird? Würde das nicht den Nährboden für Extremismus bereiten und unsere Demokratie gefährden?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Zeiten der Krise sind immer Zeiten der Exekutive. Unter dem Ereignisdruck der Märkte sind schnelle Entscheidungen gefragt. Denn Parlamente, die nationalen gleichermaßen wie das Europäische, werden zusehends an den Rand gedrängt. Einmalig mag das hinzunehmen sein, aber als perpetuierter Ausnahmezustand gefährdet dies die Demokratie. Der Trend der seit drei Jahren anhaltenden Vergipfelung, die Zunahme der Gipfeltreffen des Europäischen Rates bei denen über immer mehr Detailfragen entschieden werden, höhlt die Demokratie aus. Jürgen Habermas hat das als „Selbstermächtigung des Europäischen Rates“ bezeichnet. Mich erinnert dieses Vorgehen an den „Wiener Kongress“ im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: Nationale Interessen durchdrücken und das ohne demokratische Kontrolle.

Begründet wird dieses Vorgehen mit einer vermeintlichen Steigerung der Handlungsfähigkeit. Ich sage vermeintlich, weil es in der Tat oftmals zu einer Verunmöglichung von Entscheidungen und Handlungen führt. Denn im Europäischen Rat wird gemäß dem Einstimmigkeitsprinzip entschieden – das heißt nichts anderes, als dass das langsamste und unwilligste Mitglied das Tempo vorgibt. Zu welchen Verrenkungen das führt, wenn man unter diesen Bedingungen dennoch handeln will, das konnte man beim Fiskalpakt sehen und auch bei den laufenden Verhandlungen zum mehrjährigen EU-Finanzrahmen erleben wir das aktuell.

Die Herausforderung an die Politik heute ist: Die Handlungsfähigkeit und zugleich die Demokratie bewahren.

Die Krise macht uns bewusst, dass wir bereits heute nicht mehr im nationalen Rahmen sondern im eng verflochtenen Europa leben. Ein Land kann alle anderen mit in den Abgrund reißen, diese Erkenntnis hat uns seit geraumer Zeit eingeholt. Unsere Volkswirtschaften, unsere Gesellschaften, unsere Leben sind bereits untrennbar miteinander verknüpft. Die Menschen haben das begriffen. Sie interessieren sich bereits mehr dafür, was in ihren Nachbarländern passiert. Wohl selten haben nationale Wahlen so ein großes Interesse hervorgerufen wie jene in Frankreich und Griechenland. Ja, die Menschen interessieren sich dafür, wann woanders in Rente gegangen wird, wie dort der Spitzensteuersatz aussieht, warum junge Menschen auf den Straßen europäischer Hauptstädte demonstrieren gehen. Da ist schon eine europäische Öffentlichkeit im Entstehen begriffen. Allerdings negieren manche Regierungen diesen bereits existierenden europäischen Bezugsrahmen noch. Sie halten lieber an der Fiktion nationalstaatlicher Souveränität fest. An der Inszenierung Brüsseler Gipfeltreffen, auf denen nationale Interessen durchgeboxt werden und die Ergebnisse dann jeweils der heimischen Öffentlichkeit als Sieg verkauft werden. Dabei ist es im ureigensten nationalen Interesse, dass Europa funktioniert. Ulrich Beck formulierte das Paradox des Souveränitätsverzicht, der zu Souveränitätsgewinn führt; die Europäisierung als Positiv-Summen-Spiel in dem es im Gegensatz zu einem Null-Summen-Spielen nicht länger so ist, dass der eine verlieren muss, damit der andere gewinnt. Die Logik des Positiv-Summenspiels lautet vielmehr: Entweder gewinnen wir alle oder verlieren wir alle.

Doch einige Regierungschefs spielen weiter ihr Nullsummenspiel im neuzeitlichen „Wiener Kongress“, im Ratsgebäude in Brüssel. Warum? Weil sie ihrem Heimatpublikum ihre Ohnmacht nicht eingestehen wollen? Dass Nationalstaaten in vielen Bereichen ihre Handlungsfähigkeit bereits weitgehend eingebüßt haben, das erleben wir jeden Tag. Auf den unkontrollierten und teilweise hemmungslosen Finanzmärkten werden Nationalstaaten zum Spielball der Finanzinteressen. Wäre heute eine rationale, nüchterne Einsicht in die Notwendigkeit nicht anzuerkennen, dass entweder jeder alleine ertrinkt oder wir gemeinsam segeln? Dass es in vielen Bereichen nur mehr supranationale Lösungen gibt? Bei der Regulierung der Finanzmärkte bei den transkontinentalen Handelsbeziehungen, beim Klimawandel, der internationalen Sicherheit, dem Kampf gegen die Armut in der Welt?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Es besteht kein Bedarf, jetzt in der Krise das Rad neu zu erfinden. Die Gemeinschaftsmethode in den Gemeinschaftsinstitutionen verankert, das ist die Basis, um Handlungsfähigkeit und Demokratie in Europa zu bewahren. Denn die EU, und das wird oft vergessen, ist ja der Versuch nicht nur supranationale Lösungen für transnationale Probleme zu finden sondern die Demokratie dabei zu retten. Eben nicht Regierungschefs in intergouvernementalen Foren, hinter verschlossenen Türen, der Öffentlichkeit unzugänglich, Absprachen treffen zu lassen, die die heimischen Parlamente nur mehr durchwinken sollen. Sondern parlamentarisch legitimierte Entscheidungen über Sachverhalte, die uns alle angehen und die Handlungsfähigkeit von Nationalstaaten übersteigen, auf transnationaler Ebene zu treffen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Für mich bedeutet der Auftrag des Friedensnobelpreises der Politik der Kurzfristigkeit eine Absage zu erteilen und wieder zu einer Politik der Langfristigkeit zurückkehren. Denn nur eine langfristige Perspektive macht eine nachhaltige Politik möglich. Erlauben Sie mir, hierzu zum Abschluss drei Anmerkungen zu machen.

Erstens, wir müssen uns den überall in Europa wieder aufflammenden nationalistischen Vorurteilen entgegenstellen. Die Zentrifugalkräfte der Krise drohen uns auseinanderzutreiben. Viele Deutsche sehen sich als Zahlmeister für den Schlendrian Anderer in Haftung genommen. Andere Völker sehen sich als Opfer einer von außen oktroyierten, in Berlin entschiedenen Sparpolitik, sie fühlen sich um ihre Selbstbestimmung gebracht und ihre Demokratie beschädigt.

Die Menschen werden aufeinander gehetzt und gegeneinander ausgespielt. Dabei sind sie alle, wir alle sind Opfer der Finanzkrise. Die einen zahlen mit ihrem Steuergeld für Garantien, die anderen durch Kürzungen von Leistungen. Nur die Verursacher der Krise, die kommen ungeschoren davon.

In dieser wirtschaftlich und sozial angespannten Lage fällt die Hetze von Populisten und Extremisten auf fruchtbaren Boden: Die Saat von Zwietracht und Groll ist ausgebracht. Die Dämonen der Vergangenheit zeigen heute wieder ihre hässliche Fratze. Dämonen, die immer nur Unglück über die Völker Europas brachten. Mit Sorge beobachte ich, dass Fremdenfeindlichkeit wieder auf dem Vormarsch ist, dass Populisten mit billigen Sprüchen Stimmung gegen andere machen. Mit welcher Leichtfertigkeit wird über „faule Südländer“ gesprochen, an denen man ein „Exempel statuieren“ müsse. Die EU-Flagge wird neben dem Hakenkreuz verbrannt und die deutsche Bundeskanzlerin in Nazi-Uniform abgebildet. Dies habe ich im griechischen Parlament auf das Schärfste verurteilt und das will ich auch an dieser Stelle erneut tun.

Die Nachkriegsgeneration machte sich mit großer Weitsicht daran, einen Sozialstaat aufzubauen, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern und die jungen Demokratien zu stabilisieren. Wir, als ihre Erben, dürfen nicht im vorauseilenden Gehorsam, dem „Diktat der Märkte“ folgend die Axt anlegen an diese große europäische Errungenschaft. Langfristige Politik, das heisst, die langfristigen Auswirkungen politischer Entscheidungen mitzubedenken und in der Tagespolitik die langfristige Stabilität unserer Gesellschaften und Demokratien nicht aus den Augen zu verlieren.

Zweitens, wir müssen uns der Spaltung Europas entgegenstellen. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten kam ja bereits vor einigen Jahren in intellektuelle Mode. Joschka Fischer erklärte, eine „Avantgarde“ müsse die „Rolle der Lokomotive bei der politischen Integration“ übernehmen. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers sprachen sich für ein „Kerneuropa“ aus. Heute stehen manche dieser Ideen vor der Umsetzung. Droht doch zusehends die Spaltung in Euro und Nicht-Euro Länder. Das mag zunächst sogar einleuchtend sein. Warum sollten Länder, die nicht im Euro sind, an Entscheidungen der Euro-Governance beteiligt sein? Aber schalten wir von der kurzfristigen auf die langfristige Perspektive, dann ergibt sich ein anderes Bild: Der Euro ist die Währung der Europäischen Union. Alle EU-Mitgliedsländer – außer zweien, die sich ein Opt-Out erbeten haben – sind verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald sie die Kriterien erfüllen. Macht es also Sinn, diese Länder von Schlüsselentscheidungen auszuschließen, die sie in naher Zukunft unmittelbar betreffen werden? Macht es Sinn, die derzeit dynamischste Volkswirtschaft der EU und hoffentlich baldiges Euro-Land, Polen, von diesen Entscheidungen auszuschließen? So geschehen etwa beim Gipfel im Oktober 2011 als die Nicht-Euroländer kurzerhand aus dem Sitzungssaal rausgebeten wurden. Die EU muss weiterhin positive Integrationskräfte entfalten und darf keine Abgrenzungsunion werden.

Für Länder, die sich langfristig aus bestimmten Gemeinschaftspolitiken ausgeklammert haben oder dies beabsichtigen, müssen sicherlich Prozeduren gefunden werden. Das gilt nicht nur für die jeweiligen Abgeordneten im Europäischen Parlament sondern auch für die Kommissare, die Fachminister, die Richter beim Europäischen Gerichtshof.

Drittens, die Europäische Union ist ein Langzeit-Projekt, das immer Langzeit-Dividenden abgeworfen hat – und sie verdient eine Langzeit-Perspektive, über die Tagespolitik, über Umfragewerte, über Wahltermine hinaus. Alle Erfolge der Europäischen Union waren Langzeiterfolge: Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Aufnahme junger Demokratien, der Euro und die Osterweiterung.

Wir erleben gewiss die schwerste Krise seit der Gründung der EU. Aber ein Teil der Krise ist sicherlich auch, dass uns viele dieser Erfolge selbstverständlich geworden sind – auf dem wohlhabendsten Kontinent dieser Erde frei reisen, arbeiten und leben zu können, mit einem Lebensstandard und einem Grundrechteschutz, der in anderen Teilen der Welt wie ein Traum erscheint.

Wie leichtfertig wird derzeit über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen debattiert! Oder die Aufgabe des Euros propagiert, der doch eine stabile Währung ist und zu unserem Wohlstand beigetragen hat!

Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Rückkehr zur Langfristigkeit sollte nicht nur zur Maxime für die Politik werden sondern auch zur Maxime für die Wirtschaft. Auf den kurzfristigen Maximalgewinn ausgerichtetes, nur an aktuellen Börsenwerten orientiertes Denken hat ursächlich mit zur Finanzkrise beigetragen. Die Bonuskultur in den Vorstandsetagen, das Jobhopping der Manager, Strohfeuerbooms durch Phantasiefinanzprodukte, Steuerflucht und Beihilfenshopping haben zum Raubbau an der Realwirtschaft geführt. Vernachlässigt wurden langfristige Zukunftsinvestitionen in Ausbildung, Infrastruktur und Innovation – die ja erstmal Kosten verursachen und kurzfristig die Bilanz verhageln. Aber langfristig zu nachhaltigem Wachstum führen.

Mit Tageslosungen werden die entfesselten Finanzmärkte nicht zu bändigen sein. Den Primat der Politik durchzusetzen, das strategische Interesse eines geeinten Europas angesichts weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Gewichte-Verschiebungen nicht aus dem Blick zu verlieren – das erfordert eine Rückkehr zur Langfristigkeit.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich danke Ihnen, dass Sie an diesem 9. November mir die Gelegenheit gegeben haben, den Vorschlag zu unterbreiten, der Kurzfristigkeit das Konzept der Langfristigkeit entgegen zu stellen. An diesem sehr deutschen Tag, dem 9. November tue ich das als deutscher Präsident des Europäischen Parlaments, der weiß: Heute findet sich Deutschland – ungewollt und ungeplant – in der Lage wieder, durch seine wirtschaftliche Macht erneut zum Schlüssel in Europa geworden zu sein. Thomas Manns Appell, nicht nach einem deutschen Europa sondern einem europäischen Deutschland zu streben, ist deshalb heute aktueller denn je.

Zumal sechs Jahrzehnte europäischer Integration bewiesen haben: Was gut für Europa ist, das ist gut für Deutschland. Erlauben Sie mir, in diesem Sinne mit den Worten des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt zu schließen, mit Worten die er am Tag nach der Verleihung vor der Universität in Oslo sprach: „Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte.“