Kolumnen
Der koloniale Geist der deutsch-türkischen Beziehungen
In den kommenden Jahren muss sich das im Kern seit 200 Jahren unveränderte koloniale Paradigma Deutschlands verändern. Andernfalls wird sich das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie einmal mehr zum Nachteil Deutschlands auswirken. (Foto: aa)
Der greise, aber weise Altkanzler Helmut Schmidt erklärt das historische Dilemma, in dem Deutschland sich befindet, mit den Begriffen Zentrum und Peripherie. Ihm zufolge befinde sich Deutschland mit seiner geopolitischen und geografischen Lage bezogen auf Kontinentaleuropa im Zentrum. Um seine nationalen Interessen mittels der unterschiedlichsten Instrumente durchzusetzen, nutzt ein starkes Deutschland diese zentrale Lage, indem es auf die sich in der Peripherie befindenden Länder einwirkt. Diese Ausdehnung zerstört jedoch das Gleichgewicht zwischen dem Zentrum und der Peripherie und Deutschland sitzt trotz wirtschaftlicher und militärischer Überlegenheit auf dem kürzeren Ast. In historischen Momenten politischer Instabilität und Schwäche im Zentrum unterlag es stets der verbündeten Kraft von Mächten der Peripherie.
Als Beispiel für ein zu stark gewordenes Deutschland kann das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg angeführt werden. Durch das politische Geschick Graf Otto von Bismarck wurde im Jahre 1871 ein vereintes Deutsches Reich gegründet. In kürzester Zeit entwickelte sich dieser erste deutsche Nationalstaat zur wirtschaftlich und militärisch stärksten Macht Europas. Allerdings ging das Kaiserreich nicht richtig mit dieser Macht um. Es verfolgte eine aggressive und imperialistische Politik der Peripherie gegenüber, wodurch das seit dem Wiener Kongress 1815 herrschende Kräftegleichgewicht in Europa zerstört wurde.
Die Folgen sind bekannt: Ein Wettrüsten, welches erst zum Ersten und als Folge dieses zum Zweiten Weltkrieg führte. Deutschland war zwar stark, vielleicht die stärkste Nation Europas, doch es hat am Ende alles verloren. Denn das Verhältnis zwischen dem Zentrum und der Peripherie wurde zerstört und die Peripherie hat sich daraufhin gegen das Zentrum verbündet.
Maßvolle Außenpolitik immer noch im deutschen Interesse
Als Beispiel für ein instabiles und schwaches Deutschland im Zentrum ist wiederum die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erwähnen. Der französische Kaiser Napoleon Bonaparte marschierte 1806 nahezu problemlos quer durch das Land, besetze es bis 1813 und löste damit ein über 50 Jahre anhaltendes Trauma aus.
Helmut Schmidts Fazit für die aktuelle Situation ist: Auch wenn die Bundesrepublik politisch wie wirtschaftlich stark und einflussreich ist, sollte sie diese Macht stets mit Sorgfalt und Maß einsetzen.
Die immer noch ungelöste Eurokrise hat deutlich gemacht, dass Deutschland den anderen europäischen Staaten wirtschaftlich und politisch überlegen ist. Aus Sicht von Ländern wie Griechenland nimmt dies schon fast hegemoniale Züge an. Die Mittel zur Ausübung dieser Überlegenheit sind die komplizierten Institutionen der Europäischen Union. Als Folge dessen steigt in der Peripherie die Unzufriedenheit sowohl mit der EU als auch mit Deutschland und die Beliebtheit Deutschlands sinkt.
Sollten nun die regierenden deutschen Politiker dem Ratschlag Helmut Schmidts kein Gehör schenken und das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zerstören, würde sich dies wiederum zum Nachteil Deutschlands auswirken. Aus diesem Grund wird Deutschland um jeden Preis am Fortbestand der EU festhalten, weil diese das Machtverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie maßvoll regelt.
Eines der Länder, die sich aus deutscher Sicht in der Peripherie befinden und mit dem eine ausgeglichene Beziehungen zu führen Sinn macht, ist zweifelsohne die Türkei.
Koloniales Paradigma
Die Grundlagen der Beziehungen beider Länder wurden von einem anderen Helmut(h) gelegt, der seinerzeit vom osmanischen Sultan Mahmut II. als militärischer Berater ins Reich eingeladen worden war. Helmuth von Moltke (1800-1891), der im Umfeld der Gründung des Deutschen Reiches 1871 durch Bismarck wohl eine der wichtigsten Persönlichkeiten war, verbrachte zwischen 1835 und 1839 vier seiner Lebensjahre im Osmanischen Reich. Einerseits beriet er den Sultan, der damals mit der Auflösung der Janitscharen-Einheiten eine tiefgreifende Reform seiner Streitkräfte durchführte, in militärischen Belangen. Und andererseits erstattete er dem Preußischen König regelmäßig Bericht über die Entwicklungen im zerfallenden Osmanischen Reich.
In den zwischenzeitlich vergangenen fast 200 Jahren betrachtete Deutschland die Türkei stets mit einem – mal offenen und mal verdeckten – kolonialen Paradigma, in dessen Zentrum die eigenen wirtschaftlichen Interessen stehen. Obwohl sich die Mittel im Laufe der Zeit verändert haben, ist dieses Paradigma stets erhalten geblieben. Deswegen stellt der Demokratisierungsprozess der Türkei in den vergangenen 20 Jahren für Deutschland eine neue Herausforderung dar.
Ist das vielleicht der Grund, warum Deutschland dem türkischen Demokratisierungsprozess keine Aufmerksamkeit schenkt? Und hegt die deutsche Diplomatie insgeheim die Hoffnung, dass die antidemokratischen kemalistischen Eliten, mit denen es einfach war eigene Interessen auszuhandeln, eines Tages wieder wie in alten Tagen im Hintergrund das politische Geschehen bestimmen?
Waren elitäre Kemalisten die bequemeren Verhandlungspartner?
Im Sommer 2012 veröffentlichte die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), eine der einflussreichsten deutschen Beratungsinstitutionen für Außen- und Sicherheitspolitik, einen Türkei-Bericht, der nicht nur seiner Länge wegen äußert bemerkenswert war. Während Berichte dieser Art standardmäßig 4-6 Seiten umfassen, nahm jener über 20 Seiten ein. Doch das eigentlich Interessante an dem Bericht war natürlich sein Inhalt. Nach einer Zusammenfassung der fundamentalen Veränderungen der vergangenen 20 Jahre wird in dem Bericht folgendes Fazit gezogen: Es gibt in der türkischen Politik, Wirtschaft, Bürokratie und sowie unter den NGOs und Think Tanks neue Akteure. Ohne diese neuen Akteure zu berücksichtigen, kann man in der Türkei nicht mehr wirksam agieren.
In den kommenden Jahren muss sich das im Kern seit 200 Jahren unveränderte koloniale Paradigma Deutschlands verändern. Andernfalls wird sich das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie einmal mehr zum Nachteil Deutschlands auswirken.
Seit 2002 regiert Recep Tayyip Erdoğan in Ankara und seit 2005 Angela Merkel in Berlin. In den vergangenen Jahren hat es wechselseitig mehrere Besuche gegeben. Zuletzt war der türkische Ministerpräsident im vergangenen Oktober in Berlin. Jedoch haben diese Besuche kein einziges Problem zwischen beiden Ländern wirklich gelöst und es gibt kein einziges politisches Projekt, an dem beide Länder wirklich überzeugend zusammenarbeiten. Im kommenden Monat wird Angela Merkel nach Ankara reisen. Vielleicht wird ja bei dieser Reise die Grundlage für ein neues Verhältnis gelegt, das nicht den politischen Realitäten des 19., sondern jenen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.