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Politik

Der komplizierte Fall von Selahattin Demirtaş

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Seit vier Jahren sitzt Selahattin Demirtaş mittlerweile hinter Gittern, obwohl das türkische Verfassungsgericht seine Inhaftierung als rechtswidrig eingestuft hat. Was treibt den türkischen Staat an, den pro-kurdischen Politiker dennoch wegzusperren?

Er ist einer der bekanntesten Politiker der Türkei und sitzt dennoch seit 2016 im Gefängnis. Man wundert sich angesichts zehntausender Häftlinge, die aus ähnlichen Gründen inhaftiert sind, dass auch Selahattin Demirtaş wegen terroristischer Anschuldigungen im Gefängnis verweilt. Diese lange Haft ohne Prozess überschreite den „angemessenen Zeitraum“, urteilte noch in diesem Sommer das türkische Verfassungsgericht einstimmig. Dem einstigen Co-Parteivorsitzenden der HDP sollen deshalb 6500 Euro als Entschädigung gezahlt werden. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Freilassung scheint noch nicht in Sichtweite. Das lässt jedenfalls der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unmissverständlich wissen.

Justiz-Reform in der Türkei?

Dabei hätte die Türkei den in­haf­tier­ten Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­ker laut Eu­ro­päi­schem Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te bereits Ende November 2018 freilassen müssen. Zwar habe es für die Verhaftung von Demirtaş einen begründeten Verdacht gegeben. Jedoch sei eine normale Dauer für eine Untersuchungshaft längst überschritten. Unbeachtet davon hat die türkische Regierung kürzlich überraschenderweise eine Reform in der Justiz angekündigt. Man wolle in der Wirtschaft, Justiz und Demokratie für eine „Mobilmachung“ sorgen. Einem Aktionsplan für Menschenrechte messe man „großen Wert“ bei. Dieser Plan umfasse jedoch nicht jeden. Er werde nie für die „Mörder von Yasin Börü“ gelten.

Der Mord an Yasin Börü

Dabei handelt es sich um einen 16-Jährigen, der bei pro-kurdischen Kundgebungen gegen den IS am 7. Oktober 2014 in Diyarbakır von maskierten PKK-Sympathisanten ermordet worden sein soll. Bei Anschlägen und Übergriffen an jenem Tag starben mit Börü insgesamt 46 Personen. Aufgrund seiner Aufrufe zu Protesten betrachtet die Regierung Demirtaş als Mitverantwortlichen. Dieser hingegen weist die Kritik von sich. Vielmehr sei bislang völlig unklar, wer überhaupt hinter den Morden stecke. In einem Interview mit Ruşen Çakır im Jahr 2015 äußerte der Politiker die Vermutung, dass hinter den Morden auch der Staat stecken könnte. Tatsächlich ist die Liste ungeklärter Morde im Südosten der Türkei lang, sie erreichte in den 80er und 90er Jahren ihren Höhepunkt. Es gilt als offenes Geheimnis, dass dabei der Staat damals seine Finger im Spiel hatte.

Demirtaş, HDP und die Sache mit der PKK

Die PKK ist in Deutschland seit 1993 verboten. Sie wird auch hierzulande als eindeutige Terrororganisation gelistet. Ihre Fahnen und Abzeichen gehören auf öffentlichen Kundgebungen verboten. Dennoch kommt es auf pro-kurdischen Demonstrationen in Deutschland immer wieder zu Ausschreitungen, weil sich die Teilnehmer nicht an diese Regeln halten wollen. Sie sehen in den Verboten eine Diskriminierung und möchten frei darin sein, das Abbild von Terror-Anführer Abdullah Öcalan zu zeigen. Auf einer pro-kurdischen Kundgebung in Köln im Jahre 2016 war auch Selahattin Demirtaş anwesend.

Demirtaş in Köln: „Wir sind besorgt um den Gesundheitszustand von Öcalan“

Er ging auf die Bühne und sprach über den Einsatz der Kurden gegen die IS-Terroristen. Danach ging er auf den Anführer der Kurden ein und meinte damit Öcalan. Zum Hintergrund: 2016 wurde Abdullah Öcalan, auch bekannt als „Apo“, unmittelbar nach dem Putschversuch vom 15. Juli im Gefängnis isoliert und von der Außenwelt völlig abgeschirmt. Es machten Gerüchte über seinen Gesundheitszustand die Runde. In Köln rief Demirtaş alle „ehrenvollen“ Kurden auf, „auf die Straßen zu gehen, bis man endlich wieder ein Lebenszeichen“ von Öcalan erhalte. „Ihr könnt nicht ein ganzes Volk stellvertretend in der Person von Herrn Öcalan festnehmen“, so Demirtaş weiter.

Für die einen Helden, für die anderen Terroristen

In Deutschland ist die PKK gut aufgestellt, sehr zum Ärger Ankaras. „Aufgrund der weiterhin angespannten Lage in Syrien, im Irak und in der Türkei halten die intensiven Bemühungen der PKK an, auch in Deutschland Personen für die Guerillaeinheiten der Organisation anzuwerben“, heißt es auf der Internetseite des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Insbesondere die Jugendorganisation der PKK sei maßgeblich für die Rekrutierung neuer Kämpfer in Deutschland verantwortlich. Einige der in Deutschland rekrutierten Personen seien „bei Gefechten für die Guerillaeinheiten“ ums Leben gekommen.

Öcalan der „Babymörder“

Als Guerilla, wenn sie denn sterben sogar als Märtyrer, werden diese Radikalen lediglich in manchen kurdischen und linksextremen Szenen gesehen. Im überwiegenden Teil der Türkei spricht man vielmehr von Terroristen. Durch Attentate auf Zivilisten verdienen sie sich diesen Ruf seit über 40 Jahren. Abdullah Öcalan wird in der Türkei als der „Babymörder“ umschrieben. Am 20. Juni 1987 wurden im Dorf Pınarcık bei Mersin insgesamt 31 Personen getötet. Unter den Opfern waren zahlreiche Kinder und Frauen sowie türkische Soldaten. Hochrangige Mitglieder der PKK übernahmen für diese Gräueltaten die Verantwortung.

Kurde Demirtaş als der türkische Obama?

In einem Welt-Interview fragte Deniz Yücel 2015 den beliebten kurdischen Politiker, ob er von Barack Obama kontaktiert worden sei. Demirtaş erkannte die Analogie sofort, die sich bereits innerhalb der türkischen Opposition etabliert hatte. Wie Obama der erste dunkelhäutige Präsident der USA wurde, so sollte Demirtaş der erste kurdische Ministerpräsident der Türkei werden. Im Gegensatz zu Demirtaş musste sich Obama nie für eine Nähe zu irgendeiner Terrororganisation rechtfertigen. Nichtsdestotrotz ist er ein sympathischer Mann mit politischem Verständnis und erfolgsversprechendem Charisma. Zudem kann sich jede politische Figur auch im Sinne einer „Realpolitik“ ändern, wandeln und entwickeln. Mit seinen 47 Jahren ist der heute seit vier Jahren inhaftierte Demirtaş genau so alt wie Recep Tayyip Erdoğan, als dieser 2001 zum Ministerpräsidenten der Türkei gewählt wurde. Auf welche Weise diese lange und unrechtmäßige Haft den sonst so bescheidenen Mann verändert haben kann, weiß keiner. Man müsste sich nur seine Liebsten ansehen, um eine Idee dafür zu bekommen.

Zwischen modern und konservativ: Demirtaş ist ein klassischer Anatolier

Seine Frau Başak Demirtaş ist Lehrerin. War, muss man sagen. Seit ihr Mann in Edirne in Haft ist, hatte sie mehrere Komplikationen im Berufsleben. Ihre wöchentliche Reisen von ihrem Wohnort in Diyarbakır ins 1700 Kilometer entfernte Edirne haben sie in den Medien in ein schlechtes Licht gerückt. Infolge von hässlichen und unmenschlichen Anschuldigungen zog die stolze Frau ihre Konsequenz. „Sie haben gesagt, entweder hörst du auf, jede Woche zu deinem Mann zu reisen, oder du wirst suspendiert. Ich habe gekündigt und mich für Selahattin entschieden.“ Die Mutter von zwei Töchtern lebt weiterhin in ihrem Heimatort Diyarbakır und führt, abgesehen von den ständigen Reisen nach Edirne, ein einfaches Leben. Natürlich hätte Demirtaş auch in Diyarbakır inhaftiert werden können. Doch die Türkei zeigt bis heute eine übermäßige Härte gegenüber politischen Häftlingen. Mit ihnen wird meist auch ihr soziales Umfeld bestraft. Es ist eine Art Folter auf Zeit, die darauf abzielt, die Inhaftierten und ihre Nahestehenden zu brechen.

„Ich würde Tenzile hanım anrufen und mich über ihren Sohn beschweren“

Die Eltern Demirtaş‘ sind alt. Gekleidet in traditionellen Gewändern, so wie sie in den anatolischen Dörfern getragen werden, führen sie ein einfaches Leben. Seit sie bei einem Verkehrsunfall, als sie auf dem Weg zu ihrem Sohn nach Edirne waren, fast ums Leben gekommen sind, ist die alte Mutter von Demirtaş völlig entkräftet.

In einer kürzlich erschienenen Dokumentation kommt auch sie zu Wort und erinnert sich an die Anfänge des nicht mehr nur in Istanbul bekannten Politikers Erdoğan. Dieser musste in den 90er Jahren ebenfalls ins Gefängnis. „Ich habe damals sehr viel um ihn geweint und für ihn gebetet. Dann kam er heraus und wurde Ministerpräsident. Eines Tages sah ich, wie Kinder ihre Schuhe auszogen und sie auf die Zeitung stellten, in der Erdoğans Bild war. Ich schimpfte mit ihnen und sagte, dass sie das nicht machen können“, so die Mutter von Demirtaş. Man merkt ihr an, wie ihre Bewunderung mittlerweile in bittere Enttäuschung umgeschlagen ist.

Dann kommt sie noch auf Erdoğans verstorbene Mutter Tenzile zu sprechen, die sie offenbar kannte. „Wäre Tenzile hanım noch am Leben, ich würde sie anrufen und mich über ihren Sohn beschweren.“ Es sind Sätze voller Konjunktive, die ihre Hilfslosigkeit ausdrücken. Sie scheint sich nichts mehr zu wünschen, als ihren Sohn noch einmal in den Arm nehmen zu können. Ob sie das noch erleben kann, ist ungewiss. Justizreform hin oder her.

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