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Gesellschaft

Der Libanon: 4,5 Mio. Einwohner, 18 Religionsgemeinschaften, 1 Einheit

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Bürgerkriege und Kämpfe zerstörten das Land und zahlreiche Städte. Tausende von Menschen starben und Familien wurden getrennt, doch eines blieb: Die Idee einer libanesischen Einheit. (Foto: S. Saoif)

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Der Libanon: 4,5 Mio. Einwohner, 18 Religionsgemeinschaften, 1 Einheit
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„Sie fragten mich, was im Land der Feste passiert sei. Um dieses herum sind Feuer und Waffen gepflanzt. Ich sagte ihnen, dass unser Land neu geboren wird. Der stolze Libanon und sein Volk mit dem eisernen Willen. Oh, wie sehr ich Dich liebe. Auch mit Deinem Wahnsinn liebe ich Dich. Und wenn wir (das Volk) getrennt werden, vereint uns wieder die Liebe zu Dir. Und ein Korn Deiner Erde ist wertvoller als die Reichtümer der Welt. Ich liebe Dich, oh Libanon, oh Du meine Heimat.“

Mit diesen wenigen Zeilen gelingt es der berühmten libanesischen Sängerin Fairuz, jenen Nationalstolz auszudrücken, der so viele Libanesen zusammenschweißt und es möglich macht, dass sich trotz der 18 unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, die sich das Land teilen, immer wieder der Gemeinsinn ausgebildet hat, der nötig ist, um sie alle unter einem einheitlichen Dach behalten zu können.

Der Libanon ist ein kleines Land mit rund 4,5 Millionen Menschen. Im Norden und im Osten grenzt es an Syrien, im Süden an Israel und im Westen ans Mittelmeer. Die Geschichte des Libanon ist geprägt von dramatischen Ereignissen und auch heute noch durchlebt das Land einen stetigen Wandel.

Von der Schweiz des Ostens zum Bürgerkriegsland

Bis Anfang der 50er-Jahre wurde der Libanon aufgrund seiner relativen politischen Stabilität und Neutralität noch als „Schweiz des Ostens“ bezeichnet. Während der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts hingegen brachen Verfolgung, Krisen und Kriege über den Libanon herein. Das Mosaik aus vielen verschiedenen Glaubensgemeinschaften drohte, zerstört zu werden.

Der libanesische Bürgerkrieg, der im Jahr 1975 durch einen von palästinensischen Milizen ausgeführten Anschlag auf eine maronitische Kirche ausgelöst wurde und zwischen verschiedenen libanesischen und ausländischen Gruppen tobte, war nur der Anfang einer langen Leidenszeit für die libanesische Bevölkerung. Die Invasion israelischer Truppen im Laufe des Bürgerkrieges und die anschließende Besetzung des Libanons durch Syrien fachten den Kampf zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften zusätzlich an. Der „zweite Libanonkrieg“ zwischen der schiitischen Hisbollah und Israel im Jahr 2006 ist der jüngste auf libanesischem Boden ausgefochtene militärische Konflikt. Heute gelten einige mächtige Parteien und Politiker des Landes als Marionette des syrischen Regimes und des Iran.

Menschlichkeit in Zeiten des Hasses

Das sind auch die Informationen, die man aus den Medien kennt. Doch die auf blutige Ereignisse und militärische Eskalationen fokussierte Berichterstattung über den Libanon verzerrt die Wahrheit. Die einzelnen Schicksale und die dahinter stehenden Geschichten gehen dabei meist unter. Wie zum Beispiel die folgende kurze Geschichte über eine alawitische Familie, die einer sunnitischen Familie während des Bürgerkrieges bei der Flucht half:

1980 entluden sich die politischen Spannungen in der nordlibanesischen Stadt Tripoli, woraufhin es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Angehörigen der alawitischen und der sunnitischen Bevölkerungsgruppe kam. Schon damals bekämpften einander alawitische und sunnitische Libanesen, ähnlich wie heute, über drei Jahrzehnte später, wobei damals die Kämpfe vor allem die Viertel Dschabal Muhsin im Stadtteil Al-Ibbeh und den Stadtteil Bab-al Tabbana erfassten.

Heutzutage leben ausschließlich Sunniten in Al-Ibbeh; die alawitische Bevölkerung ist hauptsächlich im Viertel Dschabal Muhsin konzentriert. Zur damaligen Zeit allerdings wohnten Sunniten und Alawiten Tür an Tür in Al-Ibbeh. Milizionäre brachten dann aber zahlreiche Sunniten vor Ort um und die bewaffneten Sunniten aus Bab-al-Tabbana schossen ihrerseits wieder rücksichtslos und ohne irgendwelche Unterschiede zu machen auf die Menschen in Al-Ibbeh.

Die alawitische und die sunnitische Familie, von denen hier die Rede ist, waren jahrelang befreundet. Die Wohnung der sunnitischen Familie lag genau im Schussfeld beider Gruppen und jeder Versuch, zu fliehen, wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, da es keinen Ausweg gab. Die alawitischen Milizen hätten sie, wären sie ihrer habhaft geworden, bei nächstbester Gelegenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort umgebracht. Aus diesem Grund nahmen die alawitischen Freunde die sunnitische Familie erst mal bei sich auf, um sie zu schützen.

Eines Tages sprach die Mutter der alawitischen Familie mit dem Anführer der alawitischen Milizen und bat ihn, ihre sunnitischen Nachbarn (eine Mutter mit ihren beiden Töchtern) gehen zu lassen, da sie nichts für die politischen Feindschaften der Gruppen könnten und nur unschuldige Frauen seien. Der sonst so unberechenbare Anführer ließ sich von der Frau überreden, erlaubte der sunnitischen Familie, in den Stadtteil Bab-al-Tibbana zu fliehen und verbot seinen Milizen, auf die unbewaffneten Frauen zu schießen.

Während die westliche Berichterstattung stets lediglich das Blutvergießen zwischen den Volksgruppen betonte, rettete auf diese Weise eine alawitische Libanesin einer sunnitischen Familie das Leben – ohne, dass jemals darüber berichtet worden wäre.

Geschichten dieser Art spielten sich unzählige Male abseits der großen politischen Bühne ab. Für viele Libanesen blieben der brüderliche Zusammenhalt und die libanesische Idee das, was für sie zählte – auch und gerade während des Bürgerkrieges. Und aus diesem Gefühl des Zusammenhalts heraus bewahrten so viele Menschen sich auch in den dunkelsten Stunden des Landes ihre Menschlichkeit.

Die Religion trennt, die Liebe zum Vaterland vereint sie. Nur aus diesem Grund können diese 18 Religionsgemeinschaften trotz der Konflikte und Kriegen immer noch in einem gemeinsamen Staat zusammenleben.

Die Zedernrevolution

Der Anschlag auf den damaligen libanesischen Premierminister Rafiq al-Hariri im Jahr 2005 erweckte bei vielen auch das Libanon-Bewusstsein wieder neu. Dies machte in besonderer Weise auch die „Zedernrevolution“ (Révolution de Cèdre) deutlich, bei der christliche, sunnitische, drusische, aber auch schiitische Demonstranten das Ende der syrischen Einflussnahme auf die libanesische Politik forderten.

Mottos wie „Freiheit, Souveränität, Unabhängigkeit“ oder „Wahrheit, Freiheit, nationale Einheit“ brachten zum Ausdruck, dass die Menschen im Libanon in ihrer übergroßen Mehrheit den ausdrücklichen Wunsch verspüren, in einem gemeinsamen Staat zusammenzubleiben und Einmischungsversuche von außen nicht hinnehmen zu wollen.

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Der libanesische Journalist und Politiker Gibran Tueni verfasste vor seiner Ermordung 2005 einen Eid für alle Libanesen, der heute bei wichtigen Feiertagen immer wieder in die Erinnerung gerufen wird:

„Wir schwören bei dem allmächtigen Gott.
Muslime und Christen.
Vereint zu bleiben.
Für immer und ewig.
Um den bedeutenden Libanon zu verteidigen.“

Trotz der Uneinigkeiten unter Politikern, mangelnder Infrastruktur und oft unheilvoller außenpolitischer Einflüsse ist es das Volk, das diesen Zusammenhalt und das Miteinander von 18 unterschiedlichen Konfessionen möglich macht. Die Menschen zeigen einen beeindruckenden Willen und eine Entschlossenheit, die ihnen durch keine Gewalt genommen werden können.

Die Menschen kämpfen mit der Sprache des Herzens um ihre kleine bunte Welt: 40 Jahre Krieg, in denen das Land zerstört und wiederaufgebaut wurde, in denen Menschen umgebracht und neue geboren wurden, in denen Politiker kamen und gingen, blieb das Gefühl einer libanesischen Einheit aufrecht, in der man die Hoffnung nicht aufgibt und es als heilige Pflicht für Christen und Muslime gleichermaßen darstellt, Hand in Hand eine unzerstörbare Einheit zu bilden.

Darüber herrscht unter Politikern, Sängern und dem einfachen Volk im Libanon Einigkeit, und nicht zuletzt beschwören sie ihre Einheit auch in der Nationalhymne, in der es heißt: „Auf, ihr alle! Für Vaterland, Flagge und Ruhm!“

Autoreninfo: Sirin Saoif studiert italienische Philologie und Anglistik an der Universität Potsdam. Sie ist in Berlin geboren und hat libanesischen Migrationshintergrund.