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Gesellschaft

Der scheinbare Gegensatz zwischen Islam und Moderne

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„Der Westen muss die Bedeutung des Werts der Meinungsfreiheit, der sich in der Debatte als ein Teil der westlichen Hegemonialmacht zeigt, neu überdenken“, meint die Soziologin Prof. Dr. Nilüfer Göle.

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Der scheinbare Gegensatz zwischen Islam und Moderne
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Ist die Beleidigung religiöser Werte von der Meinungsfreiheit gedeckt? Warum können Teile der muslimischen Gemeinschaft eine offensichtliche Provokation nicht als solche erkennen? Die international angesehene Soziologin Nilüfer Göle analysiert die Probleme in jenem Bereich, in dem der Westen und der Islam unterschiedliche Vorstellungen aufweisen.

Der anti-islamische Film über das Leben des Propheten Mohammed und die Ermordung des US-Botschafters in Libyen haben die Problematik der wechselseitigen Wahrnehmungsdifferenzen zwischen dem Westen und der muslimischen Welt einmal mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rücken lassen.

Diese zwei Ereignisse stehen weder sinnbildlich für den Westen noch für die Muslime, sagt Prof. Dr. Göle. Ihrer Meinung nach hat die Globalisierung nur die krankhafte Dimension der Beziehung zwischen dem Westen und der muslimischen Welt offen gelegt. Sie ist der Meinung, dass die Meinungsfreiheit durch den Westen als „symbolische Form der Gewaltanwendung“ gezielt für einen Frontalangriff auf die religiösen Werte instrumentalisiert wird.

„Der Westen muss die Bedeutung des Werts der Meinungsfreiheit, der sich in der Debatte als ein Teil der westlichen Hegemonialmacht zeigt, neu überdenken“, meint Dr. Göle.

Das sei nicht leicht, da die Voraussetzungen der Meinungsfreiheit heutzutage eine Erosion erlitten hätten, sagt sie. Göle habe erkannt, dass, solange die Muslime ihre Religion in Europa praktizieren, sie bewusst oder unbewusst einige Grenzen überschreiten und der Westen mit Rechtsmitteln versuche, die Sichtbarkeit der Muslime in der Öffentlichkeit zu begrenzen. Der Gegensatz zwischen Islam und Moderne verflüchtige sich. Die geographischen und zeitlichen Grenzen heben sich auf. Uğur Kömeçoğlu von „Zaman“ sprach mit Göle:

Sie haben während der 90er-Jahre über den Islam in der Türkei geforscht. Ruft der Vergleich des Konfliktes zwischen Säkularismus und Religion in Europa mit dem in der Türkei vor 20 Jahren in Ihnen ein Déjà-vu hervor?

Wenn man das, was in Europa um den Islam herum geschieht, aus der Sicht der Türkei beobachtet, kann man dies sicherlich mit einem Déjà-vu oder mit einem bereits zuvor gesehenen Film vergleichen. Die Diskussionen in der Türkei rund um die Begriffe „Kopftuch“, „Säkularismus“ und „Republik“ sind nicht weit entfernt von denen, die in Frankreich stattfinden. Vor allem fällt die sich ähnelnde Terminologie auf. Es entsteht jedoch durch den „europäischen Islam“ ein anderer Sachverhalt. Die religiöse Praxis der europäischen Muslime zeigt viele europäische Züge. Die Muslime in der Türkei erscheinen dagegen ziemlich homogen.

Trotz der komplizierten Säkularisierung und der aktuellen Debatten ist das Praktizieren des Islam in der Türkei eine Normalität. In Europa kommen allerdings Debatten zu Tage, die in der Türkei als undenkbar erscheinen. Die Minarette der Moscheen, die „Halal“-Frage und sogar die Beschneidungsdebatte sind einige Beispiele hierfür. Im Gegensatz zu den anderen Religionen und Praktiken, die in Europa ihren Weg gefunden haben, hat der Islam noch keinen Platz im öffentlichen Leben und in den Traditionen Europas. Parallel zu der Tatsache, dass sich die Muslime in Europa einleben und einrichten, etabliert sich auch der Islam auf diesem Kontinent.

Wie wirkt sich der Identitätswandel auf die Gesellschaft aus?

Die Verknüpfung von Nationalität und Religion wird schwächer. Für die junge Generation verschwindet sie sogar weitgehend. Und es entsteht aus vielfältigen ethnischen und kulturellen Wurzeln eine neue Minderheit. Dabei gewinnt der Islam als verbindendes Element der Identität an Bedeutung. Kurz gesagt sind das soziale Klima, das Umfeld und die Organisationsformen als Glaubensgemeinschaft in Europa ganz andere als die in der Heimat.

Marokkanische, algerische, türkische und pakistanische Muslime, die aus verschiedenen Kulturen kommen, leben in Europa Tür an Tür. So können sie voneinander die unterschiedlichen Praktiken des Betens und der kulturellen Gewohnheiten entdecken. Der Besuch der gleichen Moschee, die Frage, in welcher Sprache die Predigt gehalten werden soll, Heiratsangelegenheiten und vieles andere werden zu Tagesthemen im Leben der europäischen Muslime. Sie leben den kosmopolitischen Islam, indem sie ihre „kleinen“ Unterschiede voneinander entdecken. Als Resultat entstehen Fragen, die nur den europäischen Islam und die europäischen Muslime betreffen. Der „Islam aus dem Mittleren Osten“ verliert langsam seinen Einfluss über die Muslime. Somit entstehen neue muslimische Wissenschaftler, Denker, Theologen und neue Fatwa-Zentren.

Viele gehen von zwei antagonistischen Identitäten aus: der Islam auf der einen, die Moderne auf der anderen Seite. Sie vertreten die These, dass sich diese beiden Identitätsblöcke auf der Mikro-Macht-Ebene treffen und sich verändern. Dieser Prozess ist sehr nervenaufreibend und führt auf beiden Seiten zu Energieverlust. Welchen Nutzen bringt diese Auseinandersetzung für beide Seiten?

Wenn wir uns die Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und Europa ansehen, müssen wir zunächst versuchen, in das subjektive Leben der Muslime hineinzuschauen, deren Fragen zum Leben und die Spannungen in ihrer inneren Welt zu verstehen. Die Auseinandersetzung zwischen Islam und Europa findet ihre Antwort im individuellen Alltag der Muslime.

Der Übergang vom Säkularen zum Religiösen und umgekehrt ist ein Teil des täglichen Lebens der Muslime. Wir dürfen den Islam nicht als eine undurchsichtige Kategorie behandeln. Die Muslime in Europa versuchen, ihre Religion und ihren Glauben in einer Umwelt zu praktizieren, wo die Bequemlichkeit der traditionellen Rituale nicht existiert. Wir sprechen von einem Islam, der weniger traditionsbelastet ist, dafür umso bewusster gelebt wird, und der sich vor einer nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft behaupten und verteidigen muss. Je mehr die praktizierenden Muslime sich in Europa einleben, umso stärker werden sie von der Öffentlichkeit als religiöse Gruppe wahrgenommen. Ihre religiösen und kulturellen Besonderheiten zeigen die Muslime durch bewusste und unbewusste Überschreitungen und Verletzungen von sozialen Grenzen.

Sie zeigen sich mit religiösen Symbolen in säkularen Lebensbereichen. Von vielen Nichtmuslimen wird das als Herausforderung, teilweise als Provokation wahrgenommen. In diesem neuen Kontext gewinnen die religiösen Symbole und Praktiken eine neue Bedeutung. Die europäischen Regierungen versuchen mit neuen Gesetzen und Verboten gegen diese – als Grenzüberschreitung gesehene – religiöse Praxis im öffentlichen Raum vorzugehen. Die Folge ist, dass das Potenzial für Diskussionen, für das wechselseitige Kennenlernen und für die Erarbeitung gemeinsamer Lösungen – und das sind alles wichtige Voraussetzungen für einen Demokratisierungsprozess – eingeschränkt wird.

Die bekannte türkische Soziologin Prof. Dr. Nilüfer Göle unterrichtet an der Pariser Fakultät für Soziale Wissenschaften und der Bosporus Universität und beschäftigt sich unter anderem mit den Formen und Folgen gesellschaftlicher Modernisierung.