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Politik

„Der türkische Staatsapparat hat noch nie die Grundrechte der Menschen geachtet“

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Die international renommierte Medizinerin und Menschenrechtsaktivistin Şebnem Korur Fincancı, Trägerin des Hrant-Dink-Menschenrechtspreises, spricht im DTJ-Interview über die Lage der Menschenrechte in der Türkei und die Rolle staatlicher Gewalt.

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Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı ist eine der renommiertesten Menschenrechtsaktivistinnen der Türkei und eine international bekannte Spezialistin auf dem Gebiet der Feststellung von Folter und der Rehabilitation von durch Folter verursachten Gesundheitsschäden. Sie ist Professorin am Lehrstuhl für Gerichtsmedizin der Universität Istanbul und Mitverfasserin des sogenannten Istanbul-Protokolls, das von den Vereinten Nationen als Standardprotokoll zur Feststellung und Beurteilung von Folterschäden festgelegt wurde. Als Mitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, TİHV) ist sie seit über zwanzig Jahren nicht nur in der Feststellung und Therapie von Folteropfern aktiv, sondern auch in der politischen Arbeit zur Prävention und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen. Seit den 90er Jahren hat sie deshalb regelmäßig mit staatlicher Repression und Behinderung ihrer Arbeit zu kämpfen.

Unter anderem durch ihre Beteiligung an der Aufklärung von Kriegsverbrechen in Bosnien, wo sie Autopsien an Leichen aus Massengräbern durchführte, sowie eine Studie zu sexueller Gewalt gegen Frauen, die sie im Auftrag Weltgesundheitsorganisation WHO anfertigte, erlangte sie auch internationale Anerkennung. DTJ hat mit ihr über die aktuelle Lage der Menschenrechte in der Türkei und die Eskalation der Gewalt seit dem Anschlag von Suruç gesprochen.

Frau Fincancı, vor einigen Jahren haben wir uns über Polizeigewalt, Folter und juristische Ungleichbehandlung in der Türkei unterhalten. Sie sagten – trotz aller politischen Differenzen – dass sich die Lage der Menschenrechte in der Türkei unter der Ägide der AKP merklich verbessert hat. Nun, nach den Entwicklungen der letzten zwei Jahre; nach den Gezi-Protesten, dem Niedergang der Meinungs- und Pressefreiheit, der Jagd auf die Hizmet-Bewegung, dem Abbruch des Friedensprozesses mit der PKK, wie würden Sie die aktuelle Lage der Menschenrechte in der Türkei beurteilen?

Fincancı: Auf eine Phase, in der im Rahmen des Annäherungsprozesses an die EU einige positive Reformen durchgeführt wurden, die die Lage der Menschenrechte in der Türkei spürbar verbesserten, folgte spätestens mit den Gezi-Protesten 2013 eine Phase, deren Beginn eigentlich bis in das Jahr 2006/07 zurückverfolgt werden kann, in der diese Errungenschaften kontinuierlich rückgängig gemacht wurden. Ein Beispiel dafür ist, dass die Befugnisse der Sicherheitskräfte immer weiter ausgebaut wurden, so kann Polizisten mittlerweile sogar ein „Schießbefehl“ auf Demonstrationen erteilt werden. Ein anderes Beispiel ist das Gesetzespaket zur inneren Sicherheit, dank dem man bis zu 48 Stunden in U-Haft gehalten werden kann, ohne das Recht zu haben, einen Anwalt zu sehen.

Und was sind die Auswirkungen dieser Maßnahmen?

Fincancı: Wir befinden uns in einer Phase, in der die Meinungs- und Pressefreiheit aufgehoben wird. Es ist nicht gelungen, im Rahmen der vorangegangenen positiven Reformen die Straffreiheit der Polizei zu beenden. Nun ist es mehr denn je Teil unseres Lebens, dass die Polizei sich für ihre Verfehlungen nicht rechtfertigen muss und straffrei ausgeht.

Gewalt von staatlicher Seite als Antwort auf terroristische Gewalt ist momentan virulent in der Türkei. Wer trägt die Verantwortung, speziell für die aktuelle Eskalation der Gewalt im Südosten des Landes?

Fincancı: Den Anfangspunkt bildet die staatliche Gewalt, denn in einem Umfeld, in dem es keine staatliche Gewalt gibt und die Bürgerrechte geschützt werden oder mindestens eine Situation gegeben ist, in der über Rechte diskutiert werden kann, entsteht keine physische Gewalt. Vor allem mit Blick auf die Angriffe gegen die HDP im Vorfeld der Wahl und das Attentat von Suruç, bei dem 33 Menschen ihr Leben verloren, ist es notwendig, zu hinterfragen, wann in diesem Prozess die Gewalt des Staates begonnen hat.

Mit Blick auf diese Gewalt war während der letzten Wochen in den türkischen Medien oft die Befürchtung zu hören, dass das Land in die Zustände der 90er Jahre zurückfallen könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?

Fincancı: Ich halte es für sinnvoller, die aktuelle Situation nicht als Rückkehr zu den 90er Jahren zu betrachten und sie mit dieser Zeit zu vergleichen, sondern die Kontinuität staatlichen Handelns, insbesondere staatlicher Gewalt, von damals bis heute zu beurteilen. Der türkische Staatsapparat als solcher hat noch nie die Grundrechte der Menschen geachtet, das Primat des Rechts respektiert oder demokratisch gehandelt. Er hat sich sogar immer dagegen gewehrt, dies zu tun. Auch wenn der Kampf um die Menschenrechte in den letzten Jahrzehnten in Teilen erfolgreich war, ist ein Gefühl für Menschenrechte in der Türkei nicht weit verbreitet und die Menschen haben es nicht verinnerlicht. Das macht es dem Staat sehr leicht, seine Gewalt zu legitimieren.

Der türkische Staat als solcher ist heute kein anderer als in den 70er, 80er und 90er Jahren; die Kurden hingegen sind mit einem soziopolitischen Rüstzeug in das 21. Jahrhundert getreten, das Folge einer langatmigen Auseinandersetzung ist. Für die anderen Bevölkerungsgruppen kann man das leider nicht behaupten, sie fallen schnell in ihre alten Denkmuster zurück. In diesem Sinne hat das 21. Jahrhundert mit den sozialen Medien eine positive Neuerung gebracht. Heute kann man durch unterschiedlichste Wege an Informationen gelangen.

Aber soziale Medien können auch eine Möglichkeit zur Überwachung sein. Seit dem Beginn Ihrer Arbeit als Menschenrechtsaktivistin mussten Sie mit Überwachung und Einschüchterung von staatlicher Seite umgehen. Hat sich das heute geändert?

Fincancı: Auch wenn ich als Einzelperson mit diesem Problem nicht mehr zu kämpfen habe, ist unsere Organisation TİHV bis heute staatlicher Repression und Einschüchterung ausgesetzt. So wurde von der Sozialversicherungsbehörde (SGK) erst kürzlich auf unrechtmäßige Art und Weise eine Geldstrafe von 130.000 Lira gegen TİHV verhängt.

Wie sehen Sie die Rolle von Organisationen wie TİHV heutzutage und was sind die Tätigkeitsfelder?

Fincancı: Die Therapie von Folteropfern ist ein bedeutender Teil unseres Einsatzes für Menschenrechte, der fortgesetzt werden muss. Wenn sie nicht mehr Teil dieses Kampfes wäre, dann würden wir den Folteropfern gegenüber unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Aus diesem Grund strengen wir uns an, sowohl durch unsere politische Arbeit gegen Rechtsbrüche anzukämpfen und diejenigen zu unterstützen, die das tun, als auch den Opfern dieser Rechtsbrüche Hilfe zu leisten. So kann der Kampf gegen die Folter zum Beispiel nicht erfolgreich sein, wenn er nicht damit verbunden ist, sich für den Frieden einzusetzen und zu versuchen, demokratische Mechanismen zu stärken. Denn nur sie können Folter verhindern.

Diese Stärkung demokratischer Mechanismen hat sich auch die HDP auf die Fahnen geschrieben, ihr Vorsitzender Selahattin Demirthat selbst als Anwalt für den Menschenrechtsverein İHD gearbeitet. Gibt es Verbindungen zwischen TİHV und der HDP?

Fincancı: Selahattin Demirtaş hat nicht als Anwalt für TİHV gearbeitet. Zwar ist er seit 2005 Mitglied unseres Gründungskomitees und hat vor allem einen wichtigen Beitrag zu den Aktivitäten in Diyarbakır geleistet. Allerdings haben und wollen wir keinerlei organisatorische Beziehungen weder zur HDP, noch zu anderen Parteien oder politischen Gruppen. Es könnte die unvoreingenommene Behandlung einzelner Menschen behindern, wenn wir irgendeine organische Bindung zu einer politischen Organisation hätten. Egal aus welcher Partei, politischen Gruppe, Organisation, aus welchem Verein oder mit welcher Weltanschauung; jeder Mensch kann Opfer von Folter werden.