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Politik

Der türkische Staat und seine blutigen Hände

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Es waren tiefe Strukturen des Staates, die vor 20 Jahren die Massaker von Sivas und Başbağlar angestachelt hatten und die Täter gewähren ließen. Sie hatten sich auch durch kurze Verjährungsfristen gegen spätere Konsequenzen abgesichert. (Foto: zaman)

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Der türkische Staat und seine blutigen Hände
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An einem 2. Juli ein Bewohner von Sivas zu sein ist nicht leicht. Für die Aleviten ist es eine sich immer wiederholende, schmerzhafte Erinnerung und für die Sunniten ist es ein tiefer, zerstörerischer Kummer, weil sie zu Unrecht für das Ereignis verantwortlich gemacht werden.

Die heutigen 20-jährigen Jugendlichen werden wohl kaum allzu viel über den „Unglückstag 1993“ wissen. Und das, obwohl die 20 Jahre genug Zeit geboten hatten, um die Ereignisse vollständig aufzuklären und auch aufzuarbeiten. Eine gerichtliche Aufarbeitung ist nun nicht mehr möglich: Die Taten sind auf der Basis der damals geltenden Gesetze verjährt. Doch kein Gesetz der Welt kann die Wahrheit als solche verjähren lassen. Ich gehe davon aus, dass die größte Erwartung der Bevölkerung von Sivas gegenüber dem Staat ist, die Akte vom 2. Juli wiederzueröffnen und in weiterer Folge auch die Informationen und Unterlagen aus den seither eröffneten dunklen Archiven den Ermittlern vorzulegen.

Und diese Erwartung ist legitim, weil der 2. Juli, abgesehen von den strafrechtlichen Konstellationen, erst recht kein Konflikt zwischen Aleviten und Sunniten ist. Der 2. Juli ist ein frappierendes Beispiel für die Folgen einer dreckigen und finsteren Hetze, in welcher der „tiefe Staat“ mit drin steckt – und wir durften in den letzten 20 Jahren auch bei anderen Gelegenheiten erfahren, wohin diese führen kann. Ignorante und naive, manchmal hasserfüllte und unverantwortliche Denkweisen haben zum 2. Juli geführt und gleichzeitig den Eindruck erweckt, als wäre dieser eine blutige Falle der Sunniten gegen die Aleviten gewesen.

Die Tatenlosigkeit war kein bloßes Behördenversagen

Der 2. Juli war zweifellos eine Falle, doch in erster Linie gegenüber den Sunniten, mehr noch als gegenüber den Aleviten. Einige alevitische Meinungsführer haben das Thema genutzt, um politische Polarisierung zu betreiben, später haben es jedoch immer mehr vorgezogen, das Thema nüchtern zu beurteilen, und haben erkannt, dass der „tiefe Staat“ dabei die Hauptrolle spielt, weswegen sie immer stärker zu einer ausgewogenen Beurteilung gelangt sind. Jedoch ist die Wunde immer noch heiß und blutet. Diejenigen, die für diese Hetze verantwortlich sind, haben leider ein „erfolgreiches“ Spiel inszeniert.

Als einer, der den wichtigsten Teil der Ereignisse mit eigenen Augen verfolgt hat, möchte ich zum Ausdruck bringen, dass, wenn es an diesem Tag eine ordnungsgemäß funktionierende staatliche Ordnung gegeben hätte, die rechtsstaatlich gehandelt hätte, die Situation registriert und in Sivas aktiv gewesen wäre, die Ereignisse nur mit der Festnahme einiger Provokateure schon lange vor Beginn der Gewaltakte enden hätten können. Allerdings gab es an diesem Tag keinen Staat, so wie wir ihn kennen. Es gab den „tiefen Staat“, der geduldig seinen Akteuren und Figuren so lange unbehelligt ihre Bühne bot, bis die Katastrophe eintrat. Er hat die Morde zugelassen und dem Desaster genüsslich zugesehen. Unmittelbar nach dem Ereignis begannen mithilfe der bewährten Techniken die Vertuschungsversuche und in strafrechtlicher Hinsicht waren diese auch erfolgreich.

Eine Wahrheitskommission wäre das Mindeste

Es ist nun, nachdem es gelungen ist, die tiefen Strukturen in die Schranken zu weisen, die Ehrenschuld des Staates, die Ereignisse des 2. Juli aufzuklären, die wahren Täter zu finden und zumindest symbolisch zu verurteilen. Die Hände des Staates, der an jenem Tag auf den Straßen von Sivas, statt seiner eigentlichen Aufgabe nachzukommen, pfeifend die Wolken beobachtet hat, sind immer noch blutig.

Wird der Staat, der bereits 1937 die ihm bekannten Täter von Dersim übersehen und davor bewahrt hat, Rechenschaft für den Mord an den unschuldigen Zivilisten ablegen zu müssen, mit Blick auf den 2. Juli sein verstecktes Gedächtnis in Bewegung setzen und die Wahrheiten offenkundig machen? Ich bezweifle es, doch wenn ich diesen Tag erlebe, werde ich wie jeder Bewohner der Stadt Sivas auch sehr glücklich sein. Natürlich auch wie die Bewohner des Başbağlar-Dorfes, die im Zuge eines durch die gleiche gesteuerte Hetze begangenen Racheaktes ermordet wurden…

Würde der Staat uns hören, wenn wir ihn rufen? Um es mit den Worten des 1937 infolge der Dersim-Erhebung hingerichteten Seyid Rıza zu formulieren: „Ich konnte eure Lügen und Intrigen nicht überwinden, das ist mir ein Problem geblieben. Ich habe mich eurer Unterdrückung nicht unterworfen und das soll euch ein Problem sein.“