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Geschichte

Dersim 38: Ein Massaker, das bis heute schmerzt

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Die Türkei ist ein junger Staat, gegründet, als das einst große Reich der Osmanen unterging. Mustafa Kemal Pascha, besser bekannt als Atatürk, führte das türkische Volk hinaus aus dem Sultanat hinein in die neue Zeit. Als der „Vater der Türken“ am 29. Oktober 1923 im Parlament die Republik ausrief, begann das Zeitalter der heutigen Türkei. Für nahezu alle Bürger dieses Landes ist heute klar, dass dies der einzige Weg war, um die Unabhängigkeit der Türken zu bewahren. Dafür sind die meisten Türken Atatürk dankbar.

Auch heute noch, 82 Jahre nach seinem Tod, ist die legendäre Persönlichkeit überall gegenwärtig. Seinen Verdienst, die Republikgründung, zu würdigen, ist sogar im türkischen Gesetz fest verankert. Demnach müssen in allen staatlichen Einrichtungen seine Büsten und Bilder angebracht werden. Jede Regierung ist zur Einhaltung der kemalistischen Prinzipien verpflichtet.

Atatürks Revolutionen: Von Bußgeldern bis zur Todesstrafe

Atatürk zwang die Westlichkeit und den westlichen Lebensstil der mehrheitlich sunnitisch und in Teilen alevitisch geprägten Bevölkerung auf. Von vielen Sitten und Bräuchen der Osmanen verabschiedete er sich drastisch. Das lasten ihm noch heute viele an. Nicht alle „Revolutionen“ von Atatürk wurden mit Samthandschuhen umgesetzt. Der Bruch mit den Strukturen und Institutionen des Osmanischen Reiches blieb ein Wagnis, das Widerstand hervorrief. Denn Atatürk griff in die Privatsphäre der Menschen ein. Mit Verboten, die sich etwa gegen islamisch anmutende Bekleidung richtete, griff Atatürk hart durch. Anstatt Turban und Fes wurde der europäische Hut aufgezwungen. Zudem war es von nun an verboten, in der Öffentlichkeit Arabisch und Kurdisch zu sprechen. Selbst der traditionelle Ruf des Muezzins ertönte später nicht mehr in arabischer, sondern in türkischer Sprache. Gegen all diese Neuerungen gab es viele Proteste, sie wurden teils niedergeschlagen, teils aber auch mit harten Geldbußen oder gar der Todesstrafe geahndet.

Kurden unter Scheich Said erstes großes „Problem“ der neuen Türkei

Zur ersten großen Herausforderung des jungen Staates kam es, als im Februar 1925 in Südostanatolien ein Aufstand von Kurden begann, deren geistiger Führer Scheich Said die Rückkehr zu Sultanat und Kalifat forderte. Mit aller Härte und Brutalität wurde der Scheich-Said-Aufstand militärisch niedergeschlagen. In den Jahren danach wurden viele Kurden vertrieben oder gehängt. Das Land nahm immer mehr diktatorische Züge an. Als 1926 ein Mordkomplott in Izmir gegen Atatürk aufgedeckt wurde, nutzte Mustafa Kemal diese Gelegenheit und ließ die vermeintlichen Drahtzieher in einem Schauprozess enthaupten.

Dersim 38: Eines der größten Massaker in der Türkei

1938 kam es zu einer letzten großen Auflehnung von alevitischen Kurden in Dersim, dem heutigen Tunceli. Eine Gruppe um den geistigen Anführer Seyit Rıza protestierte gegen die Zwangstürkisierung von Kurden und anderen ethnischen Minderheiten durch das Besiedlungsgesetz von 1934.

Seyit Rıza Statue in Dersim, heute Tunceli

In Dersim sollte das Gesetz erstmals Anwendung finden. Oder, wie sich schließlich herausstellte, eher ein Exempel statuiert werden. Ziel war es, traditionsreiche kurdische Stämme und ihre regionale Autonomie zu brechen. Innerhalb des Osmanischen Reiches genossen kurdische Autoritäten und Stämme traditionell ihre eigene Autonomie. Im Gegenzug für diese Freiheit verhielten sie sich stets loyal gegenüber dem Sultan. Sie beteiligten sich an allen Fronten, an dem das Reich Krieg führte. Auch beim Befreiungskrieg von Gallipoli, der Schlacht, die später Atatürk als Sprungbrett dienen sollte, waren die Kurden treue Staatsdiener. Doch mit der Gründung der Republik war aus Sicht von Atatürk und seinen Weggefährten kein Platz mehr für diese regionale Autonomie und auch nicht für eine andere Kultur als die türkische.

Türkisierung von Kurden in „Dörfern türkischer Kultur“

Laut Ursprungstext aus dem staatlichen Verkündungsblatt „Resmi Gazete“ sollten die Kurden in „Dörfern türkischer Kultur“ angesiedelt werden (Art. 9).

Das Besiedlungsgesetz von 1934

Dersim wurde somit als „entvölkerungswürdige“ Zone eingestuft und in Tunceli umbenannt. 1936 übernahm das Militär die Verwaltung der Region und setzte das Gesetz um. Zu jener Zeit war Atatürks engster Weggefährte Ismet Inönü Ministerpräsident der Türkei. Seine Worte aus dem Jahr 1925 machen unmissverständlich klar, wie das Regime über Kurden und andere ethnische Minderheiten dachte. „Unsere Mission ist es, alle zu Türken zu machen, die in diesen Landesgrenzen leben. Alles, was sich gegen das Türkentum auflehnt, werden wir herausschneiden. Alle, die unserer Nation dienen werden, sollen in erster Linie Türken und Turkisten sein.“ Ende 1936, als die Kurden von Dersim diese kurdenfeindlichen Ansichten und das Gesetz nicht einfach so hinnehmen wollten, wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. So wurde Dersim von der restlichen Welt isoliert. Ein- und Ausfahrten wurden durch das Militär verhindert und nur vereinzelt gestattet.

Die Kurden hingegen wollten ihre Privilegien nicht aufgeben. Ihre Weigerung wurde schließlich brutal bestraft. Mit einer als „Züchtigung und Deportation“ bezeichneten Operation beschloss das Parlament die Ermordung der Männer und die Vertreibung der Frauen und Kinder.

Ein ignorierter Schandfleck

Bis heute werden die Morde von Dersim zum Teil als Verschwörung abgestempelt und für unglaubwürdig erklärt. Besonders in türkisch-nationalistischen Kreisen sind die Vorwürfe von Kurden und Aleviten lediglich unwahre Propaganda. Dass auch heute noch daran festgehalten wird, belegen die Reaktionen von türkischen Nationalisten in Deutschland auf einen Beitrag der ARD-Sendung Titel Thesen Temperamente, kurz ttt. Anfang Dezember wurden in der Sendung „das vergessene Massaker“ thematisiert und die Arbeiten des „Oral History Project 1937/1938“ präsentiert. Sie zeigen demnach die große Mitschuld des Gründers der modernen Türkei an dem Elend von Tausenden Kurden und Aleviten bzw. alevitischen Kurden. Denn laut der Sendung existiert ein Dokument, das eine Bestellung von 20 Tonnen Giftgas aus Nazideutschland belegt. Dieses Dokument habe Atatürk selbst unterschrieben.

Kemalisten und türkische Nationalisten in Europa nach Dersim-Beitrag der ARD aufgebracht

Der Beitrag über das Massaker in Dersim kam bei vielen Kemalisten gar nicht gut an. Das ganz große Entsetzen brach aus. Kemalisten-Vereinigungen und Vertreter der kemalistischen Oppositionspartei CHP protestierten vor Sendern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, beispielsweise vor dem Gebäude des West Deutschen Rundfunks (WDR) in Köln.

Protest von Kemalisten vor dem WDR Gebäude in Köln

Doch sie wurden auch durch Kreise der türkischen Regierung oder anderen konservativ-nationalistischen Parteien unterstützt. Bei einer Kundgebung in München waren neben CHP-Leuten auch Vertreter der IYI-Partei anwesend. Am Ende blieben die Proteste letztlich überschaubar. Noch größer wirkte der Unmut im Netz. „Wie kann man Atatürk, den Gründer der modernen Türkei, mit Adolf Hitler gleichsetzen?“, hieß es unter dem ttt-Beitrag bei Facebook. Den Beitrag kommentierten auch bekannte Persönlichkeiten der deutsch-türkischen Community.

In der Online-Version („Anstandsloses ARD – Diesmal greifen die deutschen Medien Atatürk an“) der türkischen regierungsnahen Zeitung Sabah wird beispielsweise Gökay Sofuoğlu von der Türkischen Gemeinde Deutschland zitiert. Laut Sabah soll Sofuoğlu gesagt haben, dass „Atatürk und Hitler zu vergleichen wie die Fortsetzung einer neuen gefährlichen Strategie“ sei. Dabei ist unklar, ob Sofuoğlu der Sabah tatsächlich ein Interview gegeben hat oder sie ein altes Facebook-Posting des Funktionärs zitiert. Dieses Posting von Sofuoğlu ist nicht mehr auf seiner Facebook-Seite zu sehen und wurde offenbar gelöscht. Allerdings wurde in der aufgeheizten Lage der Beitrag vielfach kommentiert.

Heftige Wut bei Atatürk-Anhängern in Kommentaren sichtbar

Einige Kommentare sind sich mit Wortbeiträgen aus dem AKP- bzw. AfD-Lager zum Verwechseln ähnlich. Laut einem Nutzer ist „die ttt Sendung (…) eine politische Desinformations-Sendung, die substantielle Tatsachen auf den Kopf stellt“. Das seien „kranke Neoliberale“, so der Nutzer S.S. Ein anderer Nutzer, C. Ö., schrieb: „Die Lügenpresse [ist] sowohl in der Türkei auch in Deutschland aktiv sage ich dazu!“.

Jahrelang wurde das Massaker von Dersim völlig ignoriert. 2011 gab es schließlich eine offizielle Entschuldigung des türkischen Staates für die Vergehen. In diesem Rahmen wurde bekanntgegeben, dass insgesamt 13.806 Menschen in Dersim ums Leben gekommen seien. Der Fluss Munzur bei Dersim sei durch das vergossene Blut über mehrere Tage rot gefärbt gewesen, erzählen Überlebende heute.