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Politik

Erdoğan stärkt anti-türkische und verärgert pro-türkische Kräfte in Europa

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Erdoğans Deutschlandbesuche sind berühmt für ihre polarisierende Art. Sie zielen darauf ab, Deutschtürken an Ankara zu binden. Jedoch stärken sie zugleich anti-türkische Kräfte in Europa und schwächen die pro-türkischen. (Foto: reuters)

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Der Front National und ihre Vorsitzende Le Pen sind gegen den EU-Beitritt der Türkei.
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GASTBEITRAG Erdoğan nicht willkommen: So ist der Aufmacher der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), in dem die Befürchtungen von deutschen Politikern über den anstehenden Deutschlandbesuch Erdoğans zusammenfasst werden. Die Zeitung geht von einer Gefahr der Polarisierung auch in Deutschland aus, bis hin zu der Angst einiger deutscher Politiker, dass Erdoğan seinen Auftritt für eine Fortsetzung des Schlagabtausches mit Bundespräsident Gauck nutzen und die Stimmung weiter anheizen könnte. Viel wichtiger ist jedoch die Sorge, dass Erdoğans Auftritt am Samstag, den 24. Mai, also einen Tag vor den Europawahlen, Einfluss auf die Wahlen haben und den Zulauf zu rechtsextremen Parteien verstärken könnte. Erdoğan sollte seinen Besuch nicht antreten. Jürgen Trittin hat Recht, wenn er Erdoğan den Realitätsverlust bescheinigt. Denn schon die Terminierung des Besuchs ist problematisch und ein Zeichen eben dieses Realitätsverlustes, genauso wie sein Verhalten seit Gezi. Sein Kommentar, es handle sich bei der Bergwerkskatastrophe um einen „gewöhnlichen“ Arbeitsunfall, reiht sich nahtlos in diese Reihe ein.

Erdoğan kommt auf Einladung der AKP-nahen „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ (UETD) für eine „Jubiläumsveranstaltung“ nach Köln. Der Gastgeber und UETD-Vorsitzender Süleyman Çelik möchte sich auf das „aggressive Verhalten“ Erdoğans angesprochen nicht äußern. Er habe dies „nicht verfolgt“. Çelik hat offensichtlich bei der Planung der „Jubiläumsfeier“ sowie der Einladung von Erdoğan weitere wichtige politische Ereignisse nicht berücksichtigt, wie den laufenden Europawahlkampf und die Tatsache, dass am 25. Mai die Menschen in Deutschland und in ganz Europa zu den Urnen gehen werden. Die Türkei ist nicht nur Beitrittskandidat, sondern auch europaweit ein wichtiges Wahlkampfthema. Çelik müsste jedoch lügen, wenn er sich an die Assimilations-Rede Erdoğans in Köln vor sechs Jahren und an die Debatte danach in Deutschland nicht erinnert oder „nicht verfolgt“ hätte. Zudem ist bekannt, dass Erdoğan polarisiert, und entschlossen ist, in der Türkei eine „Hexenjagd“ zu betreiben.

Der kuriose Beraterstab

Niemand erwartet von Erdoğans Beraterstab, dass er bei der Reiseplanung Fingerspitzengefühl und politischen Realitätssinn beweist, gar die deutsche oder europäische politische Agenda berücksichtigt. Einer dieser Berater brachte es mit seinen brutalen Fußtritten gegen einen Minenarbeiter in Soma kurzzeitig zu einem zweifelhaften internationalen Ruhm. Ein weiterer Berater sorgte mit seinen irrationalen Theorien für Aufsehen. Hinter den Gezi-Protesten, so behauptete Yiğit Bulut, stecke die Lufthansa, die den Bau des dritten Flughafens in Istanbul verhindern wolle. Nun ja, man wusste von manch einer Fähigkeit der Lufthansa, ihre politische Mobilisierungskraft befand sich allerdings nicht darunter. Bulut hat uns mit seiner Aufklärungsarbeit einen großen Dienst erwiesen! Inzwischen scheinen jedoch bei der Suche von Verantwortlichen für Gezi die „Hexen“ eine bessere Chance zu haben. Bei einem solchen Beraterstab ist Erdoğans Realitätsverlust nicht verwunderlich.

Es wäre jedoch zu einfach, das Problem mit Çelik und dem Beraterstab zu erklären. Der türkische Premier hat seit über einem Jahrzehnt bewiesen, dass er ein durchaus intelligenter Politiker ist. In den letzten Jahren ist er jedoch unberechenbar geworden und hat es in den letzten Monaten geschafft, ganz Europa gegen sich zu mobilisieren. Was für ein politischer Erfolg!?

Die rechten und die rechtsextremen Parteien, wie z.B. der Front National von Marine Le Pen (Foto), lehnen den Beitritt der Türkei grundsätzlich ab, weil sie von einem christlichen Europa träumen. Für diese politischen Strömungen ist Demokratie eine christliche Errungenschaft und Islam und Demokratie gehören nicht zusammen – so ihre feste Überzeugung. Für diese Kräfte käme ein Türkeibeitritt einer doppelten Niederlage gleich. Sie werden Erdoğans Auftritt in Köln mit all den Bildern von Gezi und Soma für ihre Propaganda über die Wahlen hinaus nutzen, um die europäischen Wähler vor Muslimen und Türken, natürlich auch vor Erdoğan zu warnen.

Pro-türkische Kräfte in Europa gehen auf Distanz

Erdoğan hat jedoch mit seinem Verhalten bei Gezi und zuletzt auch nach dem Bergwerkunglück in Soma auch die pro-türkischen Grünen, Liberalen, Sozialdemokraten und Gewerkschaften gegen sich aufgebracht. Vor einigen Jahren hatten sie im Europäischen Parlament noch „EU-Türkei ja“-Plakate hochgehalten. Diese politischen Strömungen hatten auch die Verfassungsreform von 2010 unterstützt und sahen in Erdoğan den Politiker, der die Türkei in eine demokratische Zukunft und die EU führt.

Die Korruptionsaffäre, die Entlassung von Journalisten, die Erdoğan nicht genehm sind, das Verbot von Twitter und Youtube, die Eingriffe in den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit von Justiz, die Einschränkung des Demonstrationsrechts sind nur einige Praktiken der letzten Monate, die Erdoğans Handschrift tragen und die politische Landschaft in der Türkei vergiften. Erdoğan hat sich von der Demokratie und der EU verabschiedet und kann mit seinem Auftritt in Köln nur Schaden anrichten. Er gleicht einem politischen Mienenfeld. Ob, wann und wo etwas bei ihm explodiert, kann niemand vorhersagen. Es bleibt zu hoffen, dass in Köln alles friedlich abläuft.

Ali Yurttagül arbeitet seit 29 Jahren im EU-Parlament als Berater der Grünen-Fraktion.