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Politik

Erdoğan greift „Pastor“ Gauck an

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Beim Staatsbesuch des deutschen Präsidenten Joachim Gauck in der Türkei übte dieser scharfe Kritik an der Regierungspolitik Ankaras. Gül und Erdoğan wiesen diese zurück und verwiesen unter anderem auf rassistische Tendenzen in Europa. (Foto: dpa)

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Bundespräsident Joachim Gauck (M.) wird durch den türkischen Präsidenten Abdullah Gül am 28.04.2014 vor dem Präsidentenpalast in Ankara (Türkei) mit militärischen Ehren begrüßt.
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Zum Abschluss des Staatsbesuchs des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in der Türkei ist dieser in Istanbul eingetroffen. Im Mittelpunkt steht dort am Dienstag die Eröffnung der dortigen Türkisch-Deutschen-Universität. Damit wollen beide Staaten ihre Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung ausbauen. Gauck wird vom türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül und von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka begleitet.

Der Beginn des Lehrbetriebs in Istanbul hatte sich seit dem Beginn der Planungen 2006 immer wieder verzögert. Im September vergangenen Jahres wurden dann die ersten Studenten begrüßt. Etwa 130 Hochschüler haben sich für die Bachelorstudiengänge Jura, Mechatronik und BWL sowie die Masterstudiengänge European and International Affairs und Interkulturelles Management eingeschrieben. Mittelfristig sollen rund 5000 Studenten an der Hochschule in Istanbul lernen.

Am Montag hatte der Bundespräsident bei Gesprächen mit Gül und mit Regierungschef Recep Tayyip Erdogan deutliche Kritik an Demokratiedefiziten in der Türkei geübt. Vor Studenten der Technischen Universität in der türkischen Hauptstadt Ankara sprach Gauck am Montag von einer „Gefährdung der Demokratie“. Er beobachte mit Sorge Tendenzen, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu beschränken. „Ich gestehe: Diese Stimmen erschrecken mich – auch und besonders, wenn Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden.“

Während der deutsche Bundespräsident in den Universitätsräumlichkeiten die Regierung in Ankara kritisierte, warfen Regierungsgegner Steine auf Sicherheitskräfte und lieferten sich am Rande der Veranstaltung ein Gerangel, als einige von ihnen versuchten, auf das Gelände vorzudringen.

Kritik soll als „Rat“ verstanden werden

Erdoğan wurde unter anderem vorgeworfen, die landesweiten Gezi-Proteste, die vor rund elf Monaten begannen, mit massiver Polizeigewalt niederschlagen zu haben. Auf Korruptionsermittlungen reagierte er mit der Versetzung zahlreicher Polizisten und Staatsanwälte. Mit der AKP-Mehrheit im Parlament wurden Gesetze zur schärferen Kontrolle des Internets und zur Ausweitung der Befugnisse des Geheimdienstes MIT verabschiedet.

Gauck sagte weiter: „So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken.“ Ebenso sei zu kritisieren, wenn eine Regierung Urteile in ihrem Sinn beeinflussen will.

„Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn ich den Rechtsstaat in Gefahr sehe – auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist“, sagte Gauck weiter. Diese Bemerkung solle als Rat verstanden werden, so wie Deutschland bereit sei, Rat und Kritik aus anderen Ländern anzunehmen, wenn es etwa um die Aufklärung der Morde der NSU-Terrorzelle gehe, der vor allem türkischstämmige Menschen zum Opfer fielen.

Gauck würdigte den rasanten Wirtschaftsaufschwung und demokratische Errungenschaften der Türkei. Dazu zählte er auch, dass der Einfluss des Militärs zurückgedrängt wurde, der Dialog mit den Kurden geführt werde oder Erdogan den Armeniern sein Mitgefühl für erlittene Verbrechen ausspreche. In letzter Zeit gebe es aber auch „Stimmen der Enttäuschung, der Erbitterung und Empörung über einen Führungsstil, der vielen als Gefährdung für die Demokratie erscheint“.

Als Beispiele nannte Gauck Vorschriften für die Bürger, wie sie zu leben hätten, verstärkte Kontrollen durch die Geheimdienste und die gewaltsame Niederschlagung von Protesten auf der Straße. Der Zugang zum Internet und zu sozialen Netzwerken sei beschnitten worden, kritische Journalisten würden entlassen, Zeitungen mit Veröffentlichungsverboten belegt.

Gül: „Außergewöhnliche Reformen in den letzten zehn Jahren“

„Meine gesamte Lebenserfahrung hat mich zudem gelehrt: Wo die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird, wo Bürger nicht oder nicht ausreichend informiert, nicht gefragt und nicht beteiligt werden, wachsen Unmut, Unerbittlichkeit und letztlich auch die Bereitschaft zur Gewalt.“

Staatspräsident Gül wies höflich, aber bestimmt die Vorwürfe Gaucks im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz zurück. Er verwies unter anderem auf die zahlreichen politischen Reformen, die in der Türkei während der letzten zehn Jahre umgesetzt worden wären.

„Wenn wir von offenen und ehrlichen Notwendigkeiten sprechen, muss man erwähnen, dass die Türkei in den letzten zehn Jahren außergewöhnliche politische, demokratische und rechtliche Reformen umgesetzt hat“, betonte Gül. Man habe viele Probleme angepackt, viele wichtige und politische Entscheidungen getroffen und Tabus zerstört und das Land aus den Praktiken der Vergangenheit heraus auf einen Weg der Reformen gebracht.

Auch Europa solle Ehrgeiz beweisen, wenn es um die Beseitigung negativer Aspekte gehe. „In Deutschland schlachtet die extreme Rechte Menschen ab, und auch Rassismus und Islamophobie in der EU und vielen europäischen Ländern passen nicht zum Bild der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Pluralismus“, mahnte Gül. Es sei auch kein zu vermessener Wunsch, so Gül, von der am weitesten verbreiteten Internetplattform zu verlangen, ein Büro in der Türkei zu eröffnen und Steuern zu bezahlen.

Gauck war zum offiziellen Auftakt seines Staatsbesuchs in der Türkei am Montag in Ankara von Staatschef Abdullah Gül mit militärischen Ehren begrüßt worden. Nach einem Gespräch der beiden Präsidenten traf der Bundespräsident auch mit dem vor allem im Ausland zunehmend umstrittenen Regierungschef Erdoğan zu einem Mittagessen zusammen.

Erdoğan zeigt sich wenig beeindruckt

Den türkischen Premier selbst ließ die Kritik des Bundespräsidenten anscheinend kalt. Beide trafen sich vor der Campus-Rede zum Essen. Teilnehmern zufolge konfrontierte der Bundespräsident Erdoğan dabei mit den Einschränkungen des Internets, dem rigiden Umgang mit Journalisten und der umstrittenen Justizreform. Erdoğan habe „Spiegel online“ zufolge gekontert, die Situation in der Türkei stelle sich nach außen anders dar, als sie es tatsächlich ist. Die Stimmung am Tisch sei „höflich und freundlich“ gewesen, aber auch sehr sachorientiert und kaum von Small Talk geprägt, hieß es.

Am heutigen Dienstag hat Premierminister Erdoğan zudem mit Hohn auf die Aussagen Gaucks reagiert. „Vielleicht denkt er, er sei immer noch ein Pastor“, äußerte sich Erdoğan mit Blick auf Gaucks Auftritt gegenüber der Presse.

Gauck unterstütze türkische Atheisten in Deutschland, meinte der Regierungschef. Er rede wie die Vertreter eines „Alevitentums ohne Ali“, die man in Deutschland finden könne und die atheistische Überzeugungen unter dem Deckmantel des Alevitentums vertreten würden. „In der Türkei gibt es ein solches Alevitentum nicht.“ Gauck, so Erdoğan, solle sich verhalten wie ein Staatsmann und nicht wie ein Prediger.

Während des persönlichen Aufeinandertreffens am Montag habe Gauck noch ganz anders geklungen, so Erdoğan. Er habe dem deutschen Präsidenten auch deutlich gemacht, dass die Türkei eine Einmischung anderer Länder in ihre inneren Angelegenheiten nicht dulden werde.

Am Montagmorgen hatte Gauck am Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk einen Kranz niedergelegt. Am Sonntag war er im osttürkischen Kahramanmaraş in einem Lager mit syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen zusammengetroffen und hatte die Anstrengungen der Türkei bei der Hilfe für die Menschen in Not gewürdigt. Am Dienstagabend kehren Gauck und seine Delegation nach Berlin zurück. (dpa/dtj)