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Kolumnen

Deutsch-Türken: Deutschlands Stiefbürger

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Deutschland reformiert sich immer vorwärts. Begründung: Die neue Lebensrealität. Warum aber wird die Lebensrealität der Deutsch-Türken nicht anerkannt? (Foto: ap)

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Deutsch-Türken: Deutschlands Stiefbürger
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Deutschland wäre ein wunderbar liberales Land, wo jeder nach seiner Facon selig werden darf und kann. Die Wirtschaft läuft, trotz einiger Wehwehchen hier und da, was aber eigentlich normal ist. Deutschland ist schließlich Teil des irdischen Lebens und nicht des Paradieses. Die innere Sicherheit ist im Großen und Ganzen gegeben, trotz der NSU-Ermittlungspannen. Die Bürger leben nicht in der Ungewissheit, ob sie abends wieder nach Hause kommen werden, wenn sie morgens das Haus verlassen. Die gewählten demokratischen Parteien mögen kein Liebesverhältnis untereinander haben, doch sie zeigen eine gewisse Reife. Es gibt keine gehässige Atmosphäre zwischen ihnen, was für die gute demokratische Kultur des Landes spricht. Das Grundgesetz gilt als eines der liberalsten Grundordnungen der Welt. Ihm steht keine ernstzunehmende Gruppe von Unzufriedenen gegenüber. Eigentlich ein Grund zur Zufriedenheit, oder? Doch – wären da nur nicht die Türken. Wenn es um die Türken geht, tut sich die deutsche liberale Haltung sehr schwer.

Was meine ich damit? Deutschland erkennt eingetragenen homosexuellen Paaren die Adoption von Kindern zu. In Zukunft wird es normal sein, dass in Haushalten auch Kinder leben, wo zwei Frauen oder Männer eine Gemeinschaft bilden. Hatten in der bisherigen Menschheitsgeschichte Kinder einen Vater und eine Mutter, werden künftig Kinder auch zwei Väter oder Mütter haben – ohne das andere Geschlecht. Auch die Unionsparteien verweigern sich diesen Neuerungen nicht, trotz ihres Anspruches auf eine gewisse konservative Grundhaltung sowie ihres christlichen Menschenbildes. Warum? Das ist eben die Lebensrealität vieler Bürger des Landes. Mag die neue Lebensform auch noch so gewöhnungsbedürftig sein, haben sich das Leben und die Werte sich weiterentwickelt, es hat sich eine neue gesellschaftliche Realität eingestellt. Die gelte es zu akzeptieren und zu respektieren und das Gesetz den neuen Lebensverhältnissen anzupassen. Das ausschlaggebende Argument ist also der Begriff Lebensrealität.

Auch gibt es heutzutage einen starken Druck auf die katholische Kirche, sich bitte schön doch zu reformieren. Das Zölibat sollte überdacht, die Frage der Scheidung weiterentwickelt, den geschiedenen Paaren die Tür zurück in die Kirche geöffnet werden. Kondome sollten freigegeben, die Familienplanung ermöglicht werden. Und überhaupt; den Frauen sollte mehr Raum gegeben werden in anspruchsvolleren Positionen, da sie die andere Hälfte des Himmels bilden und eine nicht unbeachtliche Arbeit an der Basis der Kirche leisten. Begründung? Auch hier wieder fällt das Argument der Lebensrealität. Die Gesellschaft habe sich weiterentwickelt, die Gläubigen dementsprechend auch. Die Kirche müsse sich reformieren, will sie sich von ihrem Glaubensvolk nicht zu sehr entfremden und es verlieren. Eine Kirche, die sich der Entwicklung verschließt, wird hoffnungslos zurückbleiben und keine Antworten auf die Fragen der modernen Gesellschaft sowie der modernen Individuen mehr geben können.

Man könnte diese Beispiele beliebig ausweiten. Was sie sagen wollen, sollte klar geworden sein. Die Lebensrealität ist wichtig! Die Politik und die Kirche sollten die Lebensrealität stets im Auge behalten und entsprechend die Gesetze und die Lehre anpassen.

Was aber ist mit der Lebensrealität der Deutsch-Türken?

Alles schön und gut, aber was ist mit der Realität der Deutsch-Türken! In diesem Land werden jedes Jahr über 50.000 kleine Deutsch-Türken geboren, deren Eltern und Großeltern aus der Türkei stammen. Ihre Zahl ist seit 2000 auf fast eine halbe Million gestiegen und es kommen jedes Jahr ca. 55.000 neue hinzu. Wie sieht ihre Lebensrealität aus? Schauen wir sie uns mal etwas genauer an. Sie werden als deutsche Bürger geboren. In ihren ersten Lebensmonaten und –jahren sind sie von ihren einheimisch deutschen Mitbürgern kaum zu unterscheiden. Sie sehen eigentlich gleich aus, sie sind gleich liebenswürdig. Auch bereiten sie ihren Eltern die gleichen Probleme, machen sich nach Lust und Laune die Windeln voll, weinen und schreien, wann immer sie wollen, ohne dabei zu bedenken, ob sich davon jemand gestört fühlen könnte oder sie ihren Eltern schlaflose Nächte bereiten oder nicht.

Sie werden später in die gleichen Kindergärten und Schulen gehen, dieselben Pubertätsprobleme haben und als Erwachsene von den gleichen Sorgen umtrieben sein. Sie werden die gleiche Sprache sprechen. Deutsch-Türken bzw. Kinder mit türkischer Herkunft werden aber eine Besonderheit haben. Sie werden es neben dem Deutschem auch mit der türkischen Sprache zu tun haben. Manche von ihnen werden in der Moschee beten. Sie werden einen besonderen Bezug zum Herkunftsland ihrer Eltern, zur Türkei haben, einfach weil sie mit ihren deutschen Mitbürgern die gleiche Zukunft, aber eine etwas andere Herkunft haben. Darin unterscheiden sie sich von ihren Verwandten in der Türkei. Diese wachsen nicht mit der deutschen Sprache auf, Deutsch und Deutschland sind nicht ihre natürliche Umgebung. Die Deutsch-Türken haben eine andere Lebensrealität, sie haben eine deutsche Lebensrealität.

Was aber macht die deutsche Politik? Sie erkennt ihre Lebensrealität nicht an. Bei Deutsch-Türken zieht auf einmal das Argument Lebensrealität nicht! Bei ihnen fällt man auf einmal nicht in die 50er Jahre, sondern in die Zeit der alten Nationalstaaten zurück. Bei ihnen heißt es auf einmal, sie könnten es mit Loyalitätskonflikten zu tun haben, würde man ihnen ihre Herkunft anerkennen und ihnen auch einen türkischen Pass nachsehen. In Fragen der Sexualmoral würde man sich lächerlich machen, wenn man auf Positionen von vor ca. 30 Jahren und mehr zurückfallen würde. Bei Deutsch-Türken trifft das nicht zu, auch wenn man zwei Jahrhunderte zurückfällt. Bei Deutsch-Türken redet man von hehren Prinzipien und vom Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatlichkeit, obwohl nach Angaben des Bundesinnenministeriums bei über 50 Prozent der Einbürgerungen die Mehrstaatlichkeit akzeptiert und der alte Pass nicht aberkannt wird (2010: 53,1%).

Offenbar steht dem deutschen Staat ein im fernen Zypern Geborener näher als ein in Darmstadt oder Neumünster oder Stuttgart geborener Neubürger, weil er die falsche Herkunft hat. Wenn das nicht einen Stiefbürger ausmacht, was dann?!